Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Roman Folge 59
Für die Fünf war es eine Frage der Ehre, so etwas abzulehnen. Sie ließen sich ihre Gehälter lieber vom Klassenfeind bezahlen. Der Klassenfeind sorgte auch für die Beförderungen.
Dank einer Mischung aus Charme, Intrige und Patronage schaffte Kim Philby es 1944, den wichtigsten Job innerhalb des britischen Nachrichtendienstes zu erlangen. Er wurde zum Chef der Sektion IX ernannt. Sektion IX war zuständig für die Abwehr von kommunistischen Agenten.
Von nun an lebte er eine noch schizophrenere Existenz als zuvor. Als vermeintlicher „Kämpfer“gegen die Sowjetunion verlangte er von seinen Vorgesetzten mehr und mehr Geld, Personal und Ausstattung, mit dem Ziel, so viel britische Steuergelder wie möglich zu verschwenden. Verschwenden wollte er auch das Leben der ihm anvertrauten Agenten, die er auf Missionen schickte, welche er postwendend an Moskau verriet. Philby war mit vielen dieser britischen Agenten persönlich befreundet und wusste, dass sie ihm bedingungslos vertrauten. Er hatte trotzdem keine Probleme damit, sie zu verraten.
In seinen Augen waren tote britische Agenten der unvermeidliche Kollateralschaden des Kalten Krieges. Ähnlich sah es auch Philbys Führungsoffizier Yuri Modin. Er stellte Jahre später voller Stolz fest, dass die meisten britischen Agenten, die Philby verraten hatte, sofort liquidiert wurden. Nur ein paar ließ man laufen, damit es nicht zu offensichtlich wurde, woher die Informationen kamen. Wie wichtig solche Vorsichtsmaßnahmen waren, zeigte sich schon sehr bald. Philby, der jahrelang alle verraten hatte, geriet ein paar Monate nach Kriegsende in Gefahr, selbst verraten zu werden.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die größte Bedrohung für Philby nicht seine ahnungslosen Arbeitgeber beim MI6 waren, sondern seine Freunde in Moskau. Natürlich wusste Philby, dass die Russen alles taten, um seine Identität zu schützen. Trotzdem konnten sie ihm nie absolute Sicherheit garantieren. Er musste immer in Sorge leben, dass ein russischer Überläufer ihn und den Rest der Cambridge Fünf verraten würde. Genau das passierte im August 1945. Eigentlich hätte der Sommer ‚45 wunderschön für Philby werden können. Der Krieg war endlich vorbei, Kim frisch befördert und auf Reisen. In seinen Memoiren schrieb er:
„Es war ein denkwürdiger Sommer für mich, weil ich da zum erstenmal Rom, Athen und Istanbul sah. Aber meine herrlichen Eindrücke von Istanbul wurden davon beschattet, dass ich immer daran denken musste, dass dies vielleicht der letzte denkwürdige Sommer war, den ich erleben sollte.“
Der Grund, warum er im schönen Istanbul gelandet war und um sein Leben fürchtete, hieß Konstantin Wolkow.
Wolkow war ein NKWD-AGENT, der zur Tarnung als Vizekonsul am sowjetischen Generalkonsulat in der Türkei arbeitete.
Gemeinsam mit seiner Frau wollte er in den Westen überlaufen. Seine Hoffnung war, dass ihm der Vizekonsul an der britischen Botschaft, ein Mr. Page, dabei helfen könne. Page kannte Wolkow bereits seit einiger Zeit und mochte ihn. Eines Tages tauchte Wolkow hochnervös bei Page auf und erzählte ihm, sei- ne Frau wäre nervlich am Ende und müsse unbedingt in den Westen gebracht werden. Im Gegenzug würde er den Briten die Namen eines großen Spionagenetzwerks verraten.
Er bat Page, dieses Angebot auf keinen Fall nach London zu telegrafieren, da die Russen den britischen Code lesen könnten. Page hielt sich an diese Anweisung, und das Angebot wurde mit einem zuverlässigen Kurier nach England geschickt. Von Anfang an war Wolkow damit in Gefahr. Seine Befürchtung, dass die Russen den britischen Code lasen, stimmte zwar nicht, aber es stimmte natürlich, was Wolkow über die Spione im MI6 gesagt hatte. Dass ausgerechnet einer von ihnen seinen Fall bearbeiten würde, war unglaubliches Pech für Wolkow.
Wolkow wusste zwar von Philbys Existenz, aber er kannte nicht dessen Namen. Wie bei allen NKWd-agenten war Wolkows Zugang zu Codenamen eingeschränkt, alle Informationen, die er hatte, bekam er auf einer „Need to know“-basis. In der russischen Zentrale, der Lubjanka, gab es anders als beim MI6 keine Kantine, in der man sich zum Tee traf und indiskrete Gespräche führte. Doch obwohl jede Art von Flurfunk streng verboten war, hatte Wolkow es trotzdem geschafft, brisante Informationen zu sammeln.
In seinem ersten Gespräch mit Page gab er an, er könne sieben Verräter enttarnen, die während des Krieges im britischen Nachrichtendienst beschäftigt gewesen seien, wobei einer von ihnen es bis nach ganz oben geschafft habe. Damit war eindeutig Kim Philby gemeint.
In seinen Memoiren beschrieb Philby später den Moment, als er zum ersten Mal von seinem Chef über Wolkows Aussage informiert wurde:
„Lange starrte ich auf die Akte und überlegte, was zu tun sei. Ich musste der Sache mutig ins Auge sehen. Ich sagte dem Chef, ich glaubte, das sei eine sehr wichtige Sache. Ich würde gerne etwas Zeit haben, um herauszubekommen, was dahinterstecke, um dann vorschlagen zu können, wie man vorgehen solle.“
Philby war klar, dass er seinem Chef natürlich nichts anderes raten konnte, als einen Deal mit Wolkow zu machen. Aber sobald er diesen Rat ausgesprochen hätte, wäre ein Kollege in Istanbul mit dem Auftrag betraut worden, und er hätte keinen weiteren Einfluss mehr gehabt. Er musste also zwei Dinge versuchen: erstens selbst nach Istanbul geschickt zu werden und zweitens Zeit zu gewinnen.
Zeit brauchte er, um seine russischen Kollegen in Bewegung zu setzen. Wolkow musste so schnell wie möglich umgebracht werden, bevor er noch einmal mit Page in Kontakt treten konnte.
In seiner Autobiografie schilderte Philby den Wolkow-fall detailliert, nur einen entscheidenden Teil ließ er aus – seinen Mordauftrag. Tatsächlich erteilte er ihn so schnell wie möglich. Das sollte Philby viele Jahre später zum Verhängnis werden. In seinen Memoiren heißt es: „Zwei Tage nachdem die Information über Wolkow London erreicht hatte, hatte der Funkverkehr des NKWD zwischen London und Moskau auffallend zugenommen und danach auch der zwischen Moskau und Istanbul.“ (Fortsetzung folgt) © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN