Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Auf der Steinbock-tour über die Alpen

Die Strecke ab Oberstdorf entlang des Allgäuer Hauptkamms ist der vielleicht spektakulä­rste Höhenweg Deutschlan­ds.

- VON FLORIAN SANKTJOHAN­SER

OBERSTDORF (dpa) Die Pose sitzt: den Kopf stolz erhoben, aufrechte Haltung, die Hörner leuchten im Abendlicht. Ein Bild von einem Bock, vor den samtgrünen Grasflanke­n der Allgäuer Alpen. Und was machen die Wanderer, die gerade vorbeikomm­en? Zücken nicht mal mehr ihr Handy, um ihn zu fotografie­ren. Sie schauen nur kurz rüber und marschiere­n weiter, hinab zur Hütte am See.

„Wir haben hier eine Steinbock-garantie“, versprach Thomas Dempfle, der Chef der Alpinschul­e Oase, vor der Tour. „Wenn die Gäste keine Böcke sehen, bekommen sie ihr Geld zurück. Aber zahlen mussten wir noch nie.“Es klang wie Prahlerei, Werbegewäs­ch für einen Höhenweg, dem die Bergschule­n in Oberstdorf den Namen Steinbock-tour gaben.

Gut 38 Kilometer weit führt der Weg entlang des Allgäuer Hauptkamms, 2800 Höhenmeter rauf und wieder runter, durch Schluchten und Bergwald, über Wiesenkämm­e und Felsgrate, von Hütte zu Hütte. Früher hieß die Tour schlicht Allgäu-durchqueru­ng und war nochmal ein gutes Stück länger. Doch eine der weggefalle­nen Etappen dauerte neun Stunden, zu viel für die Gäste der Bergschule­n.

Anspruchsv­oll bleibt der Weg – und hochalpin. Man studiert besser die Wettervorh­ersage. Oder fragt den Experten bei der Alpinschul­e. Der rät, die Route umzudrehen. Denn das gute Wetter in den folgenden zwei Tagen brauche man für den Heilbronne­r Weg, die Königsetap­pe.

Statt die Seilbahn zum Fellhorn oder zur Kanzelwand zu nehmen und zur Fiderepass­hütte zu laufen, geht es somit in Spielmanns­au los. Die meisten Wanderer, die morgens den gleichen Bus genommen haben, werden den E5 machen, die beliebte Alpenüberq­uerung von Oberstdorf nach Meran.

Um sich langsam warmzulauf­en, ist der Zustieg perfekt. Sanft steigt der Weg an durch den Sperrbacht­obel, eine wilde Schlucht. Hinter dem Talschluss erhebt sich der Muttlerkop­f. Bald weitet sich die Schlucht zum Talkessel: ein Amphitheat­er aus buckligen Wiesenhäng­en, von der Natur terrassier­t, überragt von schroffen Türmen. Durch Felsrinnen plätschern Bäche herab, im Gras mümmeln Murmeltier­e. Und auf dem Logenplatz einer Kuppe sitzt die Kemptner Hütte.

Für den vielgeprie­senen Rinderbrat­en „Hüttenart“mit Spätzle, Blaukraut und Preiselbee­ren ist es noch zu früh. Also marschiert die Gruppe weiter, hinauf zum Mädelejoch, dessen Hügelchen aussehen wie Druidengrä­ber. Hier zweigt der E5 ab, es wird ruhiger.

Durch Gras und Geröll führt der Weg unterhalb der Felsgrate des Kratzers entlang, manchmal ausgesetzt. Tief hängende Wolken nähern sich und verstärken das hochalpine Gefühl. Und dann, hinter einer Kuppe, stehen plötzlich die ersten Steinböcke. Ein halbes Dutzend stakst zwischen Felsen umher, schnuppert im Geröll, rupft ein paar Halme. Die Tiere sind vielleicht 20 Meter entfernt, aber die Wanderer scheinen sie nicht zu stören.

Rucksäcke schultern und weiter. Allerdings nicht weit. Ein rotes „M“im Fels zwingt zu einer schwierige­n Entscheidu­ng. Es zeigt die Aufstiegsr­oute zur Mädelegabe­l an, mit 2645 Metern zwar nur der vierthöchs­te, aber vielleicht der berühmtest­e Gipfel der Allgäuer Alpen. Eine Kletterei der Stufe I, ein Abstecher von mindestens einer Stunde.

Lohnt sich das? Nein, nicht bei diesen Wolken. Und der Weg bis zum Waltenberg­erhaus zieht sich. Die Gruppe quert den Schwarzmil­zferner, den kläglichen Rest des letzten Allgäuer Gletschers, steigt hinauf zur Bockkarsch­arte und über einen steilen Schotterha­ng in endlosen Serpentine­n hinab zur Hütte.

Die hellen Schindeln leuchten schon von weitem durch den Nebel. Das Waltenberg­erhaus ist brandneu, der halbrunde Holzbau mit Pultdach wurde erst im Juni 2017 eröffnet. Die Zimmer und Bäder sind hell und großzügig, der Speisesaal hat große Panoramafe­nster, gepolstert­e Eckbänke und minimalist­isch designte Stühle. Das wecke bei einigen Gästen falsche Erwartunge­n, sagt Hüttenwirt Markus Karlinger, 55, breites Lächeln, grauer Stoppelbar­t, die Schultern und Arme eines Kletterers. „Manche wollen Cappuccino. Aber die Maschine würde zu viel Strom fressen.“

Früher war Karlinger Wirt im Lechtal. Als vor acht Jahren das Waltenberg­erhaus frei wurde, griff

„Wenn die Gäste keine Böcke sehen, bekommen sie ihr Geld zurück. Aber zahlen mussten wir noch nie“Thomas Dempfle Alpinschul­e Oase

er zu. Und war schockiert. „Die Hütte war in einem desolaten Zustand, sie wurde lange nicht instand gehalten.“Die Behörden bemängelte­n den Brandschut­z und das Lebensmitt­ellager im Keller. Wie bei ähnlichen Fällen in den Alpen wurde jahrelang über eine Lösung diskutiert. „Die Hardliner wollten die alte Hütte unbedingt erhalten“, erzählt ein Bergführer. „Aber sie war den Gästen kaum noch zuzumuten.“Am Ende entschied die zuständige Sektion des Alpenverei­ns, die alte Hütte abzureißen und eine neue zu bauen.

Als einzige Hütte in den Allgäuer Alpen wird das Waltenberg­erhaus mit dem Helikopter versorgt. Brot und Eier werden weiterhin zu Fuß hochgetrag­en – von Gästen, denen Karlinger dafür einen Schnaps ausgibt. Die meisten von ihnen kommen für den Heilbronne­r Weg, eine Paradetour und die Etappe des nächsten Tages.

Die Morgensonn­e vergoldet bereits die Bergspitze­n, als es den Geröllhang vom Vorabend wieder hinauf geht. Perfektes Bergwetter ist angesagt. Also doch nochmal über den Minigletsc­her zurück, Rucksäcke an einer Scharte zurücklass­en und auf die Mädelegabe­l kraxeln. Die Kletterei ist herrlich, und der Rundumblic­k vom Gipfel ist den Abstecher absolut wert – auf die benachbart­e Trettachsp­itze, auf den Großen Widderstei­n und den Ifen, und auf den Grünten.

Die grandiosen Panoramen begleiten den ganzen Tag. Der Heilbronne­r Weg führt über Felsgrate, die auf beiden Seiten Hunderte Meter abfallen, auf den Gipfel des Bockkarkop­fs und über eine Sprossenbr­ücke zum 2615 Meter hohen Steinschar­tenkopf. Stahltrepp­chen, Leitern und Seile entschärfe­n steile und ausgesetzt­e Passagen, Kletterste­ig-ausrüstung braucht man nicht. Entspreche­nd beliebt ist der Weg. Das Grüßen nimmt kein Ende.

Auch deshalb wird es später Nachmittag, bis sich die Wanderer durch den Felsspalt des Heilbronne­r Thörles zwängen und über Wiesenhüge­l absteigen. Das Hohe Licht, der zweite Zusatzgipf­el, wird ausgespart. Stattdesse­n warten Fotos bei der nächsten Steinbock-bande.

Vor der Kulisse des glitzernde­n Rappensees spaziert man schließ

lich hinab zur gleichnami­gen Hütte. Kaltes Weißbier, See- und Bergblick auf der Terrasse – besser wird es nicht. Außer vielleicht nachts, wenn die Milchstraß­e am schwarzen Himmel glimmt.

Der Rest ist Auslaufen im Auenland, über Wiesenhäng­e und durch Latschenki­efern, vorbei an sanften Bächen und schilfumst­andenen Tümpeln. Vögel zwitschern, Kühe bimmeln, Frösche hüpfen über den Weg. Nach der Schroffhei­t der Felsberge springt einen die Lieblichke­it geradezu an. Auf der anderen Seite des Rappenalpt­als, auf der Mindelheim­er Hütte und dem Krumbacher Höhenweg, denkt man zurück an all die Gipfel und Grate der vergangene­n Tage. Nur einer fehlt nun: der Steinbock.

 ?? FOTO: FLORIAN SANKTJOHAN­SER/DPA ?? Über einen Bach im Talkessel geht es zur Kemptner Hütte. Die Panoramen sind während der gesamten Steinbock-tour großartig. Und die Tiere lassen sich auch blicken.
FOTO: FLORIAN SANKTJOHAN­SER/DPA Über einen Bach im Talkessel geht es zur Kemptner Hütte. Die Panoramen sind während der gesamten Steinbock-tour großartig. Und die Tiere lassen sich auch blicken.

Newspapers in German

Newspapers from Germany