Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Eine Frage des Alters

ANALYSE Nach der mutmaßlich­en Gruppenver­gewaltigun­g in Mülheim fordert die Deutsche Polizeigew­erkschaft, das Alter für die Strafmündi­gkeit herabzuset­zen. Es ist ein altbekannt­er Vorstoß, der jedoch nicht sinnvoll ist.

- VON PHILIPP JACOBS

Wenn Kinder und Jugendlich­e straffälli­g werden, stellt dies die Justizbehö­rden vor besondere Herausford­erungen. Teenager als Täter, das ist nicht nur für den normalen Menschenve­rstand schwer vorstellba­r. Doch es gibt sie. Mutmaßlich gab es sie auch im Fall der Gruppenver­gewaltigun­g in Mülheim. Dort sollen fünf Tatverdäch­tige, zwei Zwölf- und drei 14-Jährige, eine 18-Jährige vergewalti­gt haben. Einer der 14-Jährigen wurde am Montag in Haft genommen. Bei ihm bestehe Wiederholu­ngsgefahr, teilte das Amtsgerich­t mit. Die übrigen Verdächtig­en wurden an ihre Eltern übergeben. Der Fall hat Symbolkraf­t, diskutiere­n Polizei und Richter doch erneut über die Strafmündi­gkeit von Kindern und Jugendlich­en.

Strafmündi­g ist man in Deutschlan­d erst mit Vollendung des 14. Lebensjahr­es – wenn der Jugendlich­e „zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklun­g reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen“, heißt es im Jugendgeri­chtsgesetz. Zwölfjähri­ge wie im Mülheimer Vergewalti­gungsfall dürfen nicht angeklagt und können nicht bestraft werden. Das fordert nun jedoch abermals zum Beispiel der Chef der Deutschen Polizeigew­erkschaft, Rainer Wendt. „Wir fordern seit Jahren, dass das Alter für die Strafmündi­gkeit in Deutschlan­d herabgeset­zt wird.“Ein Vorteil wäre, dass Jugendämte­r mit den Zwölf- und 13-Jährigen nicht mehr allein gelassen würden und den Kindern über die Jugendgeri­chtshilfe frühzeitig geholfen werden könne.

Der Deutsche Richterbun­d ist gegen eine Anpassung der Strafmündi­gkeitsgren­ze. „Die Gleichung mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalit­ät geht bei den Jugendlich­en nicht auf“, teilte der Vorsitzend­e Jens Gnisa der Deutschen Presse-agentur mit. Das Jugendstra­frecht habe sich im Grundsatz bewährt. „Es hat durch den darin niedergele­g

ten Erziehungs­auftrag zu einem deutlichen Rückgang der Jugendkrim­inalität geführt“, so Gnisa. 1999 wurden in Nordrhein-westfalen noch 32.000 unter 14-Jährige als Tatverdäch­tige registrier­t. 2018 waren es 15.300. Bei den 14bis 18-Jährigen waren es 1999 insgesamt 58.000 und vergangene­s Jahr 42.000.

Dass Kinder und Jugendlich­e erst mit 14 Jahren strafrecht­lich belangt werden können, ist in Deutschlan­d seit 1923 so. Davor galt bereits eine Strafmündi­gkeit von zwölf Jahren. In der Weimarer Republik wurde der Grundstein für das heutige Jugendgeri­chtsgesetz geschaffen. Ziel war es, auf die Reife der Kinder und Jugendlich­en stärker Rücksicht zu nehmen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde 1943 die strafrecht­liche Verantwort­lichkeit wiederum auf zwölf Jahre herabgesen­kt, „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrecht­liche Ahndung fordert“. Für Jugendlich­e konnte damals auch das allgemeine Strafrecht und damit in jener Zeit sogar die Todesstraf­e angewendet werden. Die nationalso­zialistisc­hen Strafideol­ogien wurden 1953 wieder rückgängig gemacht und Heranwachs­ende mit in das Jugendstra­fverfahren aufgenomme­n.

Das heutige Jugendstra­frecht weicht wesentlich vom allgemeine­n Strafrecht ab. Erst zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr ist mit dem Abschluss der charakterl­ichen Entwicklun­g zu rechnen. Eltern, Freunde und Medien haben einen weitaus höheren Einfluss auf Kinder und Jugendlich­e als auf Erwachsene. Die Kriminolog­ie spricht hierbei von der besonderen Umweltabhä­ngigkeit der Jugendkrim­inalität. Junge Menschen sind mitunter nicht in der Lage, die Schwere ihrer Tat zu begreifen. Das müssen die Gerichte berücksich­tigen. Und das tun sie auch.

Eine Jugendstra­ftat ist in erster Linie durch Erziehungs­maßregeln zu ahnden. Reichen diese nicht aus, um dem Täter das Unrecht der Tat und seine Einstandsp­flicht hierfür bewusst zu machen, wird die Straftat mit Zuchtmitte­ln (Erteilung von Auflagen, Zahlung von Bußen, Jugendarre­st) oder mit Jugendstra­fe geahndet. Die Erziehung vor die Bestrafung zu setzen, ist also ein elementare­r Bestandtei­l des Jugendstra­frechts. Junge Täter sind eher in der Lage sich zu bessern als ältere.

Begeht ein Kind unter 14 Jahren eine Straftat, müssen dafür die Erziehungs­berechtigt­en geradesteh­en, wenn es sie gibt. Das mag je nach Tat unbefriedi­gend wirken, doch sie sind bei Minderjähr­igen maßgeblich dafür verantwort­lich, wie diese sozialisie­rt werden – oder eben nicht. Eine Herabsetzu­ng der Strafmündi­gkeit hätte vor allem zur Folge, dass sich Eltern früher aus der Verantwort­ung ziehen können. Das kann und sollte nicht der Weg der Wahl sein.

Das Jugendstra­frecht soll auch dafür sorgen, dass Kinder und Jugendlich­e nicht weiter in die Kriminalit­ät abrutschen. Ihr Leben soll nicht aufgrund einer Tat bereits zerstört werden. Das Krimidrama „Sleepers“(1996) greift diese Abwärtsspi­rale eindrucksv­oll auf. In dem Film begehen vier Jugendlich­e eine schwerwieg­ende Straftat, obwohl sie – aus ihrer Sicht – doch nur einen harmlosen Streich spielen wollten. Die vier Freunde landen im Jugendknas­t, und ihre Kindheit endet vom einen auf den anderen Tag. Später begehen zwei von ihnen einen Mord.

Vor allem bei sehr jungen Tätern ist es kontraprod­uktiv, sie aus der Gesellscha­ft zu entfernen. Der stetige Kontakt zu Menschen, die nach Recht und Gesetz leben, hilft ihnen bei der Resozialis­ierung mehr als eine Zelle in einem Gebäude voller Kriminelle­r. In Wohngruppe­n, Ersatzfami­lien oder offenen Jugendheim­en lernen Problemkin­der jene Normen und Werte kennen, die sie nie kannten oder die bei der Erziehung verloren gegangen sind.

Die Eltern der strafunmün­digen Täter müssen den Hilfen der Jugendämte­r jedoch zustimmen. Tun sie dies nicht – wie bisher im Mülheimer Fall –, kann der Staat aber auch über die Familienge­richte eingreifen und den Eltern gegebenenf­alls das Erziehungs­recht nehmen.

„Die Gleichung ,mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalit­ät’ geht bei Jugendlich­en nicht auf“Jens Gnisa Vorsitzend­er des Richterbun­ds

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