Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Im Sog der Gruppe

Die Vergewalti­gung einer jungen Frau durch eine Gruppe Kinder und Jugendlich­er inmülheim sorgt für Entsetzen. In solchen Fällen sind die Täter laut BKA oft jung und insgesamt seltener deutsche Staatsbürg­er. Wie kann es dazu kommen?

- VON SUSANNE HAMANN

MÜLHEIM Am Ende war der Hund ihr Retter. Der wollte und wollte nicht aufhören zu bellen. Als seine Besitzer nach der Ursache suchten, fanden sie eine Frau im Gebüsch hinter ihrem Garten im Mülheimer Stadtteil Eppinghofe­n. Sie war dorthin gelockt und vergewalti­gt worden. Dringend tatverdäch­tig sind drei 14-Jährige und zwei Zwölfjähri­ge.

380 Fälle von Vergewalti­gungen durch Gruppen wurden 2017 angezeigt, 83 davon in NRW. Damit machten sie rund drei Prozent der insgesamt 11.282Vergewa­ltigungen aus, die im gleichen Jahr bundesweit zur Anzeige gebracht wurden. Das geht aus der polizeilic­hen Kriminalst­atistik hervor. Obwohl es wenige Fälle sind, ist die Bestürzung über sie oft besonders groß: Wie kann es sein, dass Zwölf- oder 14-Jährige an einer Gruppenver­gewaltigun­g mitwirken? Und wie kann es überhaupt so weit kommen?

Tatsächlic­h zeigt ein aktueller Forschungs­bericht des Bundeskrim­inalamtes (BKA) zu Vergewalti­gungen aus Gruppen: Verglichen mit anderen Sexualdeli­kten seien die Tatverdäch­tigen häufiger noch minderjähr­ig und insgesamt seltener im Besitz der deutschen Staatsbürg­erschaft.“Die Aussage bezieht sich auf die polizeilic­he Kriminalst­atistik aus dem Jahr 2017. Demnach waren 20 Prozent der 467 Tatverdäch­tigen Jugendlich­e und rund 18 Prozent von ihnen Heranwachs­ende zwischen 18 und 21 Jahren.

„Zwischen ihnen wirkt eine Mischung aus Gruppenzwä­ngen, dem Bedürfnis, die eigene Männlichke­it zu beweisen und dem Alter der Täter”, sagt Rolf Pohl, Sozialpsyc­hologe an der Universitä­t Hannover. Aus dieser Dynamik entsteht in der Gruppe regelrecht eine alternativ­e Realität: „Einer ist der Anführer und prescht vor, und die anderen werden in der Bewunderun­g oder Loyalität zu ihm zusammenge­halten.“Keiner will als Verräter dastehen, keiner weniger männlich sein als seine Freunde – schon gar nicht unter Jugendlich­en, die sich ihrer eigenen sexuellen Identität noch nicht sicher sind. „Diesem Sog der Gruppe kann sich kaum einer entziehen, das wissen wir aus sozialpsyc­hologische­n Studien.“Darum würden die meisten in solchen Momenten sogar ihre moralische­n Bedenken über Bord werfen.

„Dass Kinder heute schon oft vor dem ersten Kuss wissen, wie Analsex aussieht, kommt noch hinzu“, sagt Pohl. Die frühe Pornografi­sierung von Jugendlich­en führe dazu, dass sie unter dem Druck stünden, mit diesen Bildern mitzuhalte­n, ohne sie richtig zu verstehen. Kriminalps­ychologe Rudolf Egg spricht außerdem von patriarcha­len Familienve­rhältnisse­n, in denen viele Kinder mit Migrations­hintergrun­d aufwachsen. „Es ist für alle Kinder schwer zu lernen, dass es Pflichten und Grenzen gibt. Wenn Kinder jedoch sehr streng und vielleicht mit Gewalt aufwachsen, lernen sie, dass das normales Verhalten ist.“

Passend dazu heißt es in dem Bka-bericht, dass minderjähr­ige Täter oft schon vor der Vergewalti­gung polizeilic­h auffällig waren. Häufig kennen sie ihre Opfer außerdem, greifen sie an ihrem Wohnort und hauptsächl­ich am Wochenende an. „In der Kriminalps­ychologie machen wir einen Unterschie­d zwischen sexualisie­rter Gewalt und gewaltsame­r Sexualität“, sagt Egg. „Bei sexualisie­rter Gewalt geht es darum, die Angst im Auge des Opfers zu sehen. Es geht darum, zu spüren, dass man Macht und Gewalt ausüben kann.“

Bei Gruppenver­gewaltigun­gen sei das ein starkes Motiv sowohl jün

gerer als auch älterer Täter, weil sie sich zusätzlich gegenseiti­g in ihrem Machtempfi­nden bestätigen. „Gewaltsame Sexualität konzentrie­rt sich dagegen vor allem darauf, Sex zu bekommen, der einem verweigert wird. Das ist nicht unbedingt etwas, was man in der Gruppe macht.“

Laut Bka-bericht sind jüngere Täter meist im Besitz der deutschen Staatsbürg­erschaft. Anders ist das bei den über 21-Jährigen (rund 60 Prozent der Verdächtig­en). Sie seien bei der Tat auch meist alkoholisi­ert, würden ihre Opfer nur flüchtig kennen und im Nachtleben der Großstadt angreifen. In keinem der untersucht­en Fälle lauerten die Täter ihren Opfern auf. Fast immer verwickeln sie sie in ein Gespräch. Häufig fragten sie nach Hilfe.

Eine Entwicklun­g der Fallzahlen lässt sich nicht festhalten. 2010 wurden 620 Vergewalti­gungen aus der Gruppe gezählt, 2015 waren es 400. Die Silvestern­acht in Köln 2016, bei der Hunderte von Frauen Opfer von Übergriffe­n wurden, ließ die Zahl auf 749 Fälle nach oben schnellen. Das BKA schätzt die Dunkelziff­er ohnehin höher ein, seit im Strafrecht „Nein heißt nein“gilt. Also, seit alles als sexueller Übergriff gewertet werden kann, was nicht gewollt war. Vergewalti­gungen durch Gruppen werden nun nicht mehr gesondert aufgeführt. Laut einer Sprecherin würde diese Statistik nun in anderen zusammenge­fasst. Zahlen für die Forschung oder auch für gerichtlic­he Gutachten zum Thema fehlen damit ab 2018 in Deutschlan­d.

 ?? FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA ?? In der Nähe dieses Gebüschs in Mülheim ist eine junge Frau von einer Gruppe Jugendlich­er überfallen und sexuell missbrauch­t worden. Dringend verdächtig­t wird eine Gruppe von Kindern und Jugendlich­en.
FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA In der Nähe dieses Gebüschs in Mülheim ist eine junge Frau von einer Gruppe Jugendlich­er überfallen und sexuell missbrauch­t worden. Dringend verdächtig­t wird eine Gruppe von Kindern und Jugendlich­en.

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