Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Im Sog der Gruppe
Die Vergewaltigung einer jungen Frau durch eine Gruppe Kinder und Jugendlicher inmülheim sorgt für Entsetzen. In solchen Fällen sind die Täter laut BKA oft jung und insgesamt seltener deutsche Staatsbürger. Wie kann es dazu kommen?
MÜLHEIM Am Ende war der Hund ihr Retter. Der wollte und wollte nicht aufhören zu bellen. Als seine Besitzer nach der Ursache suchten, fanden sie eine Frau im Gebüsch hinter ihrem Garten im Mülheimer Stadtteil Eppinghofen. Sie war dorthin gelockt und vergewaltigt worden. Dringend tatverdächtig sind drei 14-Jährige und zwei Zwölfjährige.
380 Fälle von Vergewaltigungen durch Gruppen wurden 2017 angezeigt, 83 davon in NRW. Damit machten sie rund drei Prozent der insgesamt 11.282Vergewaltigungen aus, die im gleichen Jahr bundesweit zur Anzeige gebracht wurden. Das geht aus der polizeilichen Kriminalstatistik hervor. Obwohl es wenige Fälle sind, ist die Bestürzung über sie oft besonders groß: Wie kann es sein, dass Zwölf- oder 14-Jährige an einer Gruppenvergewaltigung mitwirken? Und wie kann es überhaupt so weit kommen?
Tatsächlich zeigt ein aktueller Forschungsbericht des Bundeskriminalamtes (BKA) zu Vergewaltigungen aus Gruppen: Verglichen mit anderen Sexualdelikten seien die Tatverdächtigen häufiger noch minderjährig und insgesamt seltener im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft.“Die Aussage bezieht sich auf die polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2017. Demnach waren 20 Prozent der 467 Tatverdächtigen Jugendliche und rund 18 Prozent von ihnen Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren.
„Zwischen ihnen wirkt eine Mischung aus Gruppenzwängen, dem Bedürfnis, die eigene Männlichkeit zu beweisen und dem Alter der Täter”, sagt Rolf Pohl, Sozialpsychologe an der Universität Hannover. Aus dieser Dynamik entsteht in der Gruppe regelrecht eine alternative Realität: „Einer ist der Anführer und prescht vor, und die anderen werden in der Bewunderung oder Loyalität zu ihm zusammengehalten.“Keiner will als Verräter dastehen, keiner weniger männlich sein als seine Freunde – schon gar nicht unter Jugendlichen, die sich ihrer eigenen sexuellen Identität noch nicht sicher sind. „Diesem Sog der Gruppe kann sich kaum einer entziehen, das wissen wir aus sozialpsychologischen Studien.“Darum würden die meisten in solchen Momenten sogar ihre moralischen Bedenken über Bord werfen.
„Dass Kinder heute schon oft vor dem ersten Kuss wissen, wie Analsex aussieht, kommt noch hinzu“, sagt Pohl. Die frühe Pornografisierung von Jugendlichen führe dazu, dass sie unter dem Druck stünden, mit diesen Bildern mitzuhalten, ohne sie richtig zu verstehen. Kriminalpsychologe Rudolf Egg spricht außerdem von patriarchalen Familienverhältnissen, in denen viele Kinder mit Migrationshintergrund aufwachsen. „Es ist für alle Kinder schwer zu lernen, dass es Pflichten und Grenzen gibt. Wenn Kinder jedoch sehr streng und vielleicht mit Gewalt aufwachsen, lernen sie, dass das normales Verhalten ist.“
Passend dazu heißt es in dem Bka-bericht, dass minderjährige Täter oft schon vor der Vergewaltigung polizeilich auffällig waren. Häufig kennen sie ihre Opfer außerdem, greifen sie an ihrem Wohnort und hauptsächlich am Wochenende an. „In der Kriminalpsychologie machen wir einen Unterschied zwischen sexualisierter Gewalt und gewaltsamer Sexualität“, sagt Egg. „Bei sexualisierter Gewalt geht es darum, die Angst im Auge des Opfers zu sehen. Es geht darum, zu spüren, dass man Macht und Gewalt ausüben kann.“
Bei Gruppenvergewaltigungen sei das ein starkes Motiv sowohl jün
gerer als auch älterer Täter, weil sie sich zusätzlich gegenseitig in ihrem Machtempfinden bestätigen. „Gewaltsame Sexualität konzentriert sich dagegen vor allem darauf, Sex zu bekommen, der einem verweigert wird. Das ist nicht unbedingt etwas, was man in der Gruppe macht.“
Laut Bka-bericht sind jüngere Täter meist im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft. Anders ist das bei den über 21-Jährigen (rund 60 Prozent der Verdächtigen). Sie seien bei der Tat auch meist alkoholisiert, würden ihre Opfer nur flüchtig kennen und im Nachtleben der Großstadt angreifen. In keinem der untersuchten Fälle lauerten die Täter ihren Opfern auf. Fast immer verwickeln sie sie in ein Gespräch. Häufig fragten sie nach Hilfe.
Eine Entwicklung der Fallzahlen lässt sich nicht festhalten. 2010 wurden 620 Vergewaltigungen aus der Gruppe gezählt, 2015 waren es 400. Die Silvesternacht in Köln 2016, bei der Hunderte von Frauen Opfer von Übergriffen wurden, ließ die Zahl auf 749 Fälle nach oben schnellen. Das BKA schätzt die Dunkelziffer ohnehin höher ein, seit im Strafrecht „Nein heißt nein“gilt. Also, seit alles als sexueller Übergriff gewertet werden kann, was nicht gewollt war. Vergewaltigungen durch Gruppen werden nun nicht mehr gesondert aufgeführt. Laut einer Sprecherin würde diese Statistik nun in anderen zusammengefasst. Zahlen für die Forschung oder auch für gerichtliche Gutachten zum Thema fehlen damit ab 2018 in Deutschland.