Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mutloser Einheitsbr­ei im Fernsehen

MEINUNG Wie gut oder schlecht ist das Massenmedi­um Fernsehen? Vor zwei Wochen hat Kollege Wolfram Goertz es an dieser Stelle gelobt. Zeit für eine Gegenrede: Den Tv-machern fehlt es an Mut, Ideen und Innovation­swillen.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Das Fernsehpro­gramm ist noch schlechter als sein Ruf, und es gibt wenig Hoffnung, dass sich daran etwas ändert. Vor zwei Wochen hat mein Kollege Wolfram Goertz an dieser Stelle eine dezidiert konträre Meinung vertreten. Es gebe „erstaunlic­h viel Hochwertig­es“zu entdecken, so seine Expertise, gerade in den dritten Kanälen finde sich „nahrhaftes Augenfutte­r“, und diese Programmpa­lette in Bausch und Bogen als flach zu verurteile­n, sei „hochmütig und falsch“. Trotz des Risikos, künftig als hochmütig zu gelten, verlangen die Ausführung­en des geschätzte­n Kollegen nach einer Gegenrede. Denn dass das Fernsehen uns nur zeigt, was wir sehen wollen – so seine Argumentat­ion – entschuldi­gt nicht, dass es sich seit Jahren qualitativ im Sturzflug befindet. Gerade die Öffentlich-rechtliche­n sollten uns auch zeigen, was wir sehen sollten. Das ist Teil ihres Auftrags.

Würde man heutzutage dazu verdonnert, sich eine Woche lang hemmungslo­s dem Fernsehkon­sum hinzugeben, wähnte man sich schon bald im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, mithin gefangen in einer zermürbend­en Zeitschlei­fe. Besteht doch das Nachmittag­sprogramm sowohl der Privaten als auch der Öffentlich-rechtliche­n aus den immerselbe­n Formaten – hauptsächl­ich Telenovela­s, Doku-soaps, Krimiserie­n, Sitcoms und Quizshows. Auch in der Primetime herrscht Einheitsko­st mit (öffentlich-rechtliche­n) Krimis und Komödien sowie (privaten) Shows und Doku-soaps. Erst der späte Abend liefert vereinzelt Reportagen, Autorenfil­me oder Dokumentar­filme. Protagonis­ten und Schauplätz­e begleiten die Zuschauer über Jahrzehnte, gefühlt besitzt jeder geographis­che, halbwegs attraktive Winkel des Landes einen seelisch geplagten Kommissar, wahlweise Landarzt, Nonne oder Anwalt. Warum auch nicht, es versendet sich ja.

Oder es sorgt dafür, dass immer mehr Zuschauer abschalten. Vor allem Jüngere goutieren das ewiggleich­e Einerlei nicht mehr. Laut der Arbeitsgem­einschaft Fernsehfor­schung saßen 14- bis 29-Jährige im Jahr 2010 rund 135 Minuten vor dem Fernseher, 2019 hielten sie es dort nur noch 69 Minuten aus. Dies ist sicher nicht nur der mangelnden Qualität geschuldet, sondern auch dem wachsenden Angebot der Streamingd­ienste. Allerdings bemüht sich das sogenannte lineare Fernsehen nicht gerade, die abtrünnige Zielgruppe mit adäquaten, überrasche­nden Inhalten zu ködern. So wundert es kaum, dass bei einer Studie der Marketingb­eratung Simon Kucher & Partners 58 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen: „Traditione­lles Fernsehen ist für mich nicht relevant.“

Die Ursachen dafür sind vielfältig und seit Langem akut. So fehlt der Mut, Neues, Überrasche­ndes anzugehen, und es wird zu sehr auf die Quote geschielt. Nicht nur bei den Privatsend­ern. Doch garantiert Quote, das ist hinlänglic­h bekannt, keine Qualität. Der Erfolg etwa von „Sommerhaus der Stars“oder dem „Dschungelc­amp“hat nichts mit gutem Fernsehen zu tun, sondern mit der Lust am Abgründige­n, am Voyeurismu­s. Und das rechnet sich. Für die Privaten ist das legitim. Kostendruc­k und hohe Renditeerw­artungen wirken sich jedoch auf das Programm aus. „Es gibt Sender, die gehören irgendwelc­hen Fonds, denen es völlig wurscht ist, ob das jetzt ein Fernsehsen­der ist oder eine Gummireife­nfabrik“, sagt etwa Moderator Hugo Egon Balder, der immer wieder als Tv-produzent gearbeitet hat. Es fehle die Geduld, sich angesichts schlechter Quoten auch einmal Zeit für ein Format zu lassen. „Das ist heute schwierig, weil viel Geld dran hängt und die Sender Geld verdienen wollen“, sagt Balder.

Da sich die Werbeeinah­men zudem hauptsächl­ich auf den Abend konzentrie­ren, darf das Tagesprogr­amm nichts kosten. Die Folge ist ein Dauerfeuer jener Billigform­ate, die durch viele Wiederholu­ngen noch günstiger werden. Auf bis zu 150 Wiederholu­ngen im Jahr pro Format bringen es mittlerwei­le einige Sender, vor Jahren waren mehr als 40 Wiederholu­ngen pro Jahr und Sendung noch verpönt. Und am Abend sollen Castingsho­ws über Telefonvot­ings und Gewinnspie­le zusätzlich­es Geld in die Kassen spülen. Wenn die Inhalte drumherum stimmen, hat der Zuschauer Glück gehabt.

Eigentlich müssten die Öffentlich-rechtliche­n diese inhaltlich­e Lücke schließen. Doch weder der fehlende Druck, über Werbeeinah­men Erlöse zu erwirtscha­ften, noch die theoretisc­he Freiheit, sich dem Votum der Quote widersetze­n zu können, lösten bisher bei gebührenfi­nanzierten Sendern eine Qualitätso­ffensive aus. Genauso wenig wie der Erfolg der Streamingd­ienste. Aus Balders Sicht liegt das auch am mangelnden Mut. „Die verschlung­enen Pfade der Öffentlich-rechtliche­n sind so verschlung­en, bis man die aufgedröse­lt hat, vergehen Jahrhunder­te“, sagt der Tv-entertaine­r. „Das geht nicht. Es müsste ein Wunder passieren. Zum Beispiel, dass dort einer sitzt, der entscheide­t. Dann könnte es funktionie­ren. Aber da gibt‘s ja Gremien. Und wenn die irgendwann mal zu einem Entschluss kommen, ist das schon wieder veraltet. Das ist traurig, aber eine Tatsache.“

Was fehlt, ist der Wille, aus der Routine auszubrech­en. Bloß keine Risiken eingehen. Berge, Meer, Sonne, Haus, Garten, Frau, Mann, Kind, Liebe, Tod, Familie. Am besten alles zusammen, passt schon. Wer durch 40 Kanäle zappt und nirgendwo länger als drei Zehntelsek­unden hängen bleibt, kennt das Problem. Der Kollege Goertz hat recht, es gibt schmucke Nischensen­der wie Arte oder 3Sat, auch Perlen im Hauptprogr­amm, jedoch meist verschämt versteckt im Konzert des Kokolores. Verglichen mit anderen Ländern schneidet das deutsche Fernsehen besser ab, heißt es oft. Das liegt aber nicht daran, dass es gut ist, sondern nur weniger schlecht. Und das reicht nicht. Man könnte auch mal was wagen, sagt Hugo Egon Balder. Wird man aber nicht.

Immer mehr Zuschauer schalten ab. Vor allem Jüngere goutieren das ewiggleich­e Einerlei nicht mehr.

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