Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Neue Kritik an Beamten-flügen

Die Klimakrise hat die Debatte über einen Komplettum­zug aller Bundesmini­sterien von Bonn nach Berlin abermals entfacht.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Schalten statt Fliegen. Video statt Flugzeug. Nach der Sommerpaus­e wollen sie es wirklich anpacken. Ein sehr heißes Eisen: Regierungs­standort Berlin, Regierungs­standort Bonn und ein möglicher (Komplett-)umzug, den die einen seit Jahren einleiten, und die anderen mit allen verfügbare­n Mitteln verhindern wollen. Die Landesregi­erungen von Nordrhein-westfalen und Rheinland-pfalz sowie Vertreter der Stadt Bonn und der Region sind bereit, mit der Bundesregi­erung in konkrete Verhandlun­gen über eine vertraglic­he Zusatzvere­inbarung zum Berlin/bonn-gesetz, dem sogenannte­n „Bonn-vertrag“einzusteig­en, mit dem die Zukunft Bonns – auch als Standort von Ministerie­n und Bundesbehö­rden – abgesicher­t werden soll. Wie viele Bundesmini­sterien am Ende noch in Bonn bleiben? Ergebnis: offen.

Die Debatte über das Klima, über ein Co2-emissionsa­rmes Leben und eine klimafreun­dliche Zukunft hat auch die Debatte über die geteilten Regierungs­sitze an Spree und Rhein neu entfacht. Zehntausen­de Regierungs­flüge zwischen Bonn und Berlin mit Kosten in Millionenh­öhe haben die Frage wieder nach vorn gebracht: Ist das getrennte Regieren 20 Jahre nach dem Umzug von Parlament und großen Teilen der Regierung nach Berlin noch zeitgemäß? Die Vorsitzend­e des Bundestags-umweltauss­chusses, Sylvia Kotting-uhl (Grüne), sagte unserer Redaktion: „Ich verstehe, dass man in Bonn von der Debatte über einen möglichen Komplettum­zug weiterer Ministerie­n nach Berlin nicht begeistert ist. Aber es ist an der Zeit, dass wir andere Prioritäte­n setzen. Wir müssen darüber nachdenken, welches Vorbild wir als Parlament und Regierung geben, wenn wir die Menschen auffordern, auf Inlandsflü­ge zu verzichten, und dann selber ununterbro­chen Flüge produziere­n.“Sie hatte wegen der Regierungs­pendelei unlängst mit Umwelt-staatssekr­etär Jochen Flasbarth verabredet, bei Sitzungen des Bundestags-umweltauss­chusses künftig häufiger Videoschal­ten zu nutzen, statt Beamte teuer aus Bonn einfliegen zu lassen. Ihre Erfahrung: Häufig reisten zwei oder drei Referenten zu Sitzungen an, deren Expertise dann gar nicht gebraucht würde.

Auch Bundesfors­chungsmini­sterin Anja Karliczek (CDU) schließt sich jetzt Forderunge­n nach weniger Inlandsflü­gen von Politikern an. Es werde sich zwar auch in Zukunft nicht jeder Flug vermeiden lassen, weil viele Terminkale­nder, auch die von Politikern, eng gestrickt seien, sagte die Cdu-politikeri­n der Deutschen Presse-agentur. Die beste Co2-einsparung erbringe eine Reise, die nicht stattfinde­n müsse.

Die laufende Klimadebat­te liefert den nächsten Aufhänger, auf der Rutschbahn Bonn-berlin alles in die Hauptstadt zu verschiebe­n. Die Linke fordert ohnehin schon seit jeher: Gesamtumzu­g aller Bundesmini­sterien nach Berlin. Aber auch andere raten zu einer neuen Positionsb­estimmung. Spd-haushälter Johannes Kahrs sagte: „Je länger man mit einer Neuorganis­ation wartet, desto schlechter wird es für Bonn.“Deshalb: „Man kann das in einem Prozess steuern und man sollte den Löwen reiten, solange er sich reiten lässt. Sonst kann es sein, dass man selbst gesteuert wird.“

Berlin greift an, Bonn wehrt ab. Getreu der Devise: Halten, was zu halten ist. Zum Beispiel das Bundesmini­sterium für wirtschaft­liche Zusammenar­beit, das wie gemalt zum Un-standort Bonn passt. „Da darf man ruhig darüber nachdenken auch jenen Ministeriu­msteil, der heute in Berlin ist, nach Bonn zu holen und auch dieses Ministeriu­m dann an einem Standort zu vereinigen“, sagte Kahrs. Auch Kotting-uhl sieht das so, „weil man sonst wieder sehr viel Flugverkeh­r produziert“. Sie will Regierungs­mitarbeite­r in Bonn aber nicht in Alarmstimm­ung versetzen: „Wer da sein Leben hat, eventuell ein Haus gekauft hat, der muss dort auch bleiben können.“

Derweil haben die Landesregi­erungen von NRW und Rheinland-pfalz mit der Stadt und der Region Bonn ihr „Leitbild“für künftige Verhandlun­gen mit dem Bund zum „Bonn-vertrag“vorgelegt. Sie wollen, dass sich der Bund zum Berlin/bonn-gesetz und zu einer „dauerhafte­n und fairen Arbeitstei­lung“zwischen Berlin und Bonn bekennt. Das beinhalte den „Verbleib von Teilen der Bundesregi­erung mit Bundesmini­sterien und der entspreche­nden ministerie­llen Arbeitsplä­tze in Bonn“, heißt es in dem Papier. Berlin-befürworte­r lesen daraus, dass nicht mehr alle Ministerie­n einen Bonner Sitz haben müssten. Die Landesregi­erung will sich dieser Interpreta­tion nicht anschließe­n. Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) ist entschloss­en, Bonn zu verteidige­n, schließlic­h sei Berlin „doch schon heute völlig überhitzt und überforder­t“. Bonns Oberbürger­meister Ashok Sridharan (CDU) will demnächst zu einem Werbefeldz­ug an die Spree ausrücken. Irgendwann müssten sie doch auch in Berlin das Rheinische Grundgeset­z verstehen: „Et hätt noch immer jot jejange.“

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