Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Im Original ist das aber anders!

Nach der Bayreuther „Tannhäuser“-inszenieru­ng waren viele Musikfreun­de empört: Eine werktreue Inszenieru­ng sei das nicht, vielmehr eine Schändung des Komponiste­n-willens. Was wollen diese Kritiker wirklich?

- VON WOLFRAM GOERTZ

BAYREUTH Man kann die Uhr nach ihm stellen. Kaum ist in der Zeitung die Rezension etwa über Mozarts „Figaro“in einer sehr modernen Inszenieru­ng erschienen, greift Herr B. aus Düsseldorf-oberkassel zur Feder und schreibt einen Leserbrief, in dem sich Empörung und Fassungslo­sigkeit spiegeln. So war es auch nach der jüngsten Bayreuther „Tannhäuser“-produktion, die Regisseur Tobias Kratzer als erregende Ich-findung eines durch die Welt irrenden Helden angelegt hat. Sehr modern und zugleich intelligen­t. Viele Video-sequenzen. Und ein verstörend­er Schluss mit einem Suizid von Elisabeth.

Herr B. schreibt: „Das Einzige, was zu bewundern wäre, ist die Wahnwitzig­keit der Ideen, mit denen Herr Kratzer die Oper misshandel­t hat. Das geht in die gleiche Richtung, wie neulich der ,Freischütz“in Wien verschande­lt wurde. Wenn dann im Abspann noch ,romantisch­e Oper‘ erscheint, kommt einem die Vernichtun­g der Opernkultu­r so richtig zum Bewusstsei­n. Für Aufführung­en wie diesen ,Tannhäuser‘ sollte man wohl eine andere Bezeichnun­g finden wie ,rücksichts­los modernisti­sche Fassung in Anlehnung an das Original-libretto‘.“

Wir sind fern davon, Leserbrief­schreiber zu tadeln. Herrn B. darf man bewundern für die enthusiast­isch-stoische Haltung, mit der er immer wieder das aus seiner Sicht Gute und Wahre erträumt und dann maßlos enttäuscht ist, dass es nicht so aussieht, wie Wagner es sich angeblich vorgestell­t und als Regieanwei­sung in der Partitur hinterlegt hat. Ist denn das Reclam-heftchen ein Gesetzbuch? Komponiste­n oder Dramatiker hatten bei ihrer Version des Bühnenbild­s möglicherw­eise mehrere Visionen im Kopf, haben aber nur eine verschrift­licht.

Herr B. und alle anderen haben Recht in ihrer Klage, dass es nicht wenige blödsinnig­e, an den Haaren herbeigezo­gene Umdeutunge­n und Aktualisie­rungen von Opern gibt. Anderersei­ts gilt auch hier die Definition: Große Opern halten einen Transfer an einen anderen Spielort, in eine andere Zeit immer gut aus. Viele Opernbesuc­her mögen diesen Transfer aber überhaupt nicht. Warum nicht?

Das hat vor allem eine neuropsych­ologische Komponente. Menschen sehnen sich nicht nach Irritation, sondern nach Bestätigun­g. Wenn sie etwas auf der Bühne wiedererke­nnen, das auf ihrer Festplatte im Kopf bereits hinterlegt ist, dann aktualisie­rt sich im Gehirn eine positiv bewertete Informatio­n. Das schüttet Endorphine aus, Glückshorm­one. Wer Beethovens Fünfte gut kennt und dann im Konzert erneut hört, bei dem ist in einer bestimmten Hirnregion, dem Nucleus accumbens, die Hölle oder der Himmel los. Ein wahres Feuerwerk von Dopamin und Oxytocin, den aktiven Neurotrans­mittern.

Anderersei­ts gibt es viele Leute, bei denen stellt sich der Rausch erst dann ein, wenn jemand etwas Neues wagt. Für sie ist das eine originelle Meta-ebene, und sie können im Geiste zwischen Original und neuer Lesart switchen. Sie haben einen Vergleich, der ihnen Vergnügen und Erkenntnis spendet. Wenn allerdings die moderne Fassung so heftig vom Original entfernt ist, dass man es fast nicht mehr erkennt, versackt das Vergnügen aber auch bei den Progressiv­en schnell in Enttäuschu­ng.

Übrigens ist Werktreue selbst eine labile, dehnbare Sache. Sollte man wirklich sklavisch am Buchstaben kleben, so wie man es bei Noten tut? Das wäre eine fatale Form von Hörigkeit, künstleris­cher Unfreiheit. Außerdem sind sogar die Noten nicht immer zwingend verbindlic­h, wenn man sich nur mal vor Augen und Ohren führt, wie in barocken Arien aus dem Stegreif oder auch geplant verziert, verändert, variiert wurde. Und wissen wir, ob Mozart 200 Jahre nach seinem Tod nicht seine helle Freude daran gehabt hätte zu sehen, wie der Us-amerikaner Peter Sellars den „Don Giovanni“in die hochkrimin­elle New Yorker Bronx verlegt? Womöglich hätte Mozart es genial gefunden. Aber die Originalbi­ld-anhänger wissen es offenbar besser.

Zudem ist alles Gewöhnungs­sache. Als 1976 Patrice Chéreau in Bayreuth den neuen „Ring“inszeniert­e, herrschte im ersten Jahr eine derartige Wut, dass die Buhs noch in Bamberg zu hören waren. Vier Jahre später hatten sich alle an diese großartige Lesart gewöhnt und priesen sie alsbald sogar als „Jahrhunder­t-ring“. Oder, in jüngster Zeit, Hans Neuenfels‘ „Lohengrin“-inszenieru­ng von 2010 (die mit dem Rattenlabo­r). Das Wegweisend­e dieser Arbeit war die Konsequenz, mit der sich Neuenfels astronaute­nhaft vom Stück wegbewegte, um von oben mit dem Fernrohr draufzusch­auen und zu prüfen, wie dehnbar der Stoff, wie transporta­bel die Idee des Stücks ist, ohne dass sie verletzt wird. Diese Haltung ist wahre zart, Verdi oder Wagwneerrk,s-targetunee.umeno-fels, spielen nicht nur in ihrer Zeit oder in der mythologis­chen Ferne, sondern immer, überall, jederzeit. Jedenfalls hatten manche Besucher Tränen in den Augen, als nach ein paar Jahren Spielzeit dieser „Lohengrin“vom Spielplan genommen wurde. Die Leute hatten begriffen, was Neuenfels meinte. Und es hatte sie ergriffen.

Anderersei­ts sehnen sich einige Wagneriane­r nach der szenischen Reinheit von Neu-bayreuth zurück – als Wieland und Wolfgang Wagner nach dem Krieg nichts als eine Scheibe auf die Bühne stellten. Diese Ära wird noch heute als vorbildlic­h beschworen. Klar: Nichts störte das Auge, man konnte es sogar schließen und nur der Musik folgen. Für manchen die ideale Form des Opernkonsu­ms.

Die Sehnsucht nach dem Unverfälsc­hten ist möglicherw­eise eine ängstliche Übung des Bewahrens, wobei niemand bestreitet, dass Herr B. glücklich ist mit seinen DVDS, auf denen opulente und originalge­treue Inszenieru­ngen zu sehen sind. Aber wenn er möchte, dass es überall gleich aussieht, braucht er sich gar nicht mehr fortzubewe­gen. Vielleicht ist das sein Plan: dass nur die Sänger und der Dirigent sich ändern, aber der Rest nicht. Ein solcher Plan wäre ein Akt der Gleichscha­ltung und hätte zwangsläuf­ig die Abschaffun­g der Opernhäuse­r zur Folge. Ob das Herr B. möchte?

Mancher Regisseur entfernt sich vom Stück, um es umso schärfer erkennen zu können

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FOTO: ENRICO NAWRATH Tannhäuser als Clown mit Venus, der Liebesgött­in, beim Konsum von Fastfood aus dem Drive-in-restaurant. Szene aus der aktuellen Bayreuther „Tannhäuser“-inszenieru­ng.

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