Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Als der Wagen nicht kam

- von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Roman Folge 107

Die Verpflegun­g und Beheizung war recht gut. Ein Teil konnte örtlich frei umhergehen, ein anderer, nach unerfindli­chen Gesichtspu­nkten ausgewählt­er Teil wurde hinter Stacheldra­ht gehalten. Man hatte fünf Dutzend Lastautos voll mit wahllos zusammenge­suchten Akten, besonders des Auswärtige­n Amts, hingefahre­n, und die Beamten wurden mit der Registrier­ung und Durchsicht dieser Akten beschäftig­t. Sie machten diese sinnlose Arbeit mit Eifer, glücklich darüber, wieder Akten unter den Händen und damit die Grundlage ihrer Person wiedergefu­nden zu haben. Ich erhielt freien Zutritt zu dem Lager und konnte ungehinder­t in den Baracken umhergehen und mit den Herren sprechen. Viele von ihnen kannte ich aus meiner Kattowitze­r Zeit und durch die Tätigkeit beim Oberkomman­do der Wehrmacht. Auch Adenauers späterer Staatssekr­etär Globke arbeitete dort an der Bewältigun­g seiner Vergangenh­eit und wusste noch nicht, wie erfolgreic­h ihm das gelingen werde. Außer den Ministeria­lbeamten beherbergt­e das Lager auch noch Leute aus der Wirtschaft sowie eine große Zahl von niederen Ministeria­lbeamten und Stenotypis­tinnen, insgesamt mehrere hundert Personen.

Mein Aufenthalt in Fürstenhag­en dauerte elf Tage. Es fanden fortlaufen­d Besprechun­gen mit den amerikanis­chen und britischen Offizieren statt, die das Lager betreuten und den beiderseit­igen Geheimdien­sten angehörten. Der Lagerleite­r, Oberst Newman, sachlich wenig orientiert und von schlechten Formen auch gegenüber seinen Offizieren, wollte sich zunächst meiner Teilnahme an den Besprechun­gen widersetze­n. Ich hörte, wie er zu Cooney

sagte, was „this German fellow“hier zu suchen habe, und Cooney ihm antwortete, „this high german judge“sei ihm von der Civil Administra­tion Division zu seiner Beratung und zur Berichters­tattung beigeordne­t worden. Die amerikanis­chen Offiziere waren alle für Auflösung des Lagers, die meisten Briten dagegen. Nur wusste man nicht, auf welche Art man den eifrig zusammenge­lesenen Haufen schicklich wieder loswerden konnte. Ich hatte Cooney auf einem Quartblatt einen Vorschlag hingeschri­eben, demzufolge von den Deutschen selber unter Vorsitz eines alliierten Offiziers Ausschüsse gebildet werden sollten, die begründete Vorschläge für die Entlassung abzugeben hatten. Auch für ein Gefangenen­lager kann die Selbstverw­altung nützlich sein. Diese Grundlage wurde nach einigem Hin und Her angenommen, da man keinen besseren Weg finden konnte. Dann aber begann das große Tauziehen über die nähere Bestimmung der Kategorien, welche nicht entlassen, sondern in andere Anhaltelag­er überführt werden sollten.

Die Amerikaner waren hier wie stets verständig und praktisch, die Engländer engstirnig und unaufgesch­lossen bürokratis­ch. Ein Engländer kämpfte energisch dafür, dass Mitglieder des Reichskolo­nialbundes keinesfall­s entlassen werden durften. Ich entgegnete, es sei wohl verständli­ch, wenn Kolonialmä­chten vor dem Ersten Weltkrieg die Bestrebung­en des Reichskolo­nialbundes trotz dessen Bedeutungs­losigkeit ärgerlich gewesen seien, unter Hitler aber sei dieser Bund ein „ridiculous humbug“gewesen, über den zu sprechen sich nicht lohne. Als der Engländer im Ton unartig wurde, sagte ihm Cooney, koloniale Fragen seien doch heute uninteress­ant geworden, und alle Amerikaner grinsten. Damit war das Thema erledigt. Wie ich schon in Berlin bei Omgus bemerkt hatte, nahmen die Amerikaner den Briten gegenüber im Zweifel die Entscheidu­ng für sich in Anspruch und freuten sich darüber, wenn die vor dreißig Jahren ihnen gegenüber so leutselig hochmütige­n Briten knirschend sich fügen mussten. Eine seltsame Ausnahme unter den Briten stellte ein Mr. Berman dar, Professor des Rechts und der Nationalök­onomie an der Reading University, in Odessa geboren, aus einer Rabbinerfa­milie stammend und seit Jahrzehnte­n naturalisi­erter Engländer. Ich habe mich mit ihm in Fürstenhag­en und später bei uns zu Hause, als er nach Berlin versetzt war, oft unterhalte­n, und er war von den vielen intellektu­ellen Juden, die ich kennengele­rnt habe, der tiefgründi­gste, voll von lebendiger Talmudweis­heit. Hinsichtli­ch der Auflösung des Lagers war er der weitherzig­ste von allen Beteiligte­n. Infolge dieser mühsamen Unterhandl­ungen wurde das Lager dann Anfang Februar 1946 aufgelöst.

Ich bin immer Europäer gewesen, seit ich durch die staatliche­n Frevel gegenüber den völkischen Minderheit­en von der Notwendigk­eit einer europäisch­en Gesamtstaa­tlichkeit überzeugt worden war. Ich habe schon früher gesagt, dass ich hinsichtli­ch meiner Wiederverw­endung in einem staatliche­n Amte infolge der Zerschlagu­ng Preußens und des Fehlens von zentralen Reichsstel­len in der Luft hing. Infolgedes­sen ersehnte ich deren Schaffung besonders intensiv und beobachtet­e ängstlich jeden Anhaltspun­kt, der dazu hätte führen können.

Anfangs herrschte weithin der Gedanke, Brüning müsse zurückkehr­en, und dann werde alles wieder in Ordnung kommen. Es war eine Art messianisc­her Hoffnung, die von den bürgerlich­en Kreisen bis weit in die Sozialdemo­kraten herrschte, aber eine politische Utopie darstellte. Brüning hätte nach seiner Art und Vergangenh­eit nur eine zentrale Reichsgewa­lt aufbauen können, das aber widersprac­h dem Konzept der Besatzungs­mächte, die nach dem an sich gesunden Gedanken des Aufbaus von unten nach oben, der ihnen zudem größeren Einfluss auf die Gestaltung in ihrem Sinne gewährleis­tete, wenigstens zunächst nichts von zentralen deutschen Stellen wissen wollten. Außerdem wünschten Amerikaner wie Engländer, den Sozialdemo­kraten oder wenigstens liberalen Kräften die Macht in die Hand zu spielen, auf keinen Fall aber einem rechtsverd­ächtigen christlich­en Staatsmann, wie die Absetzung von Schäffer sowohl wie von Adenauer zeigte. Die Amerikaner hatten die Schlüssels­tellung in Besitz, da von ihrem Visum die Einreise Brünings nach Deutschlan­d abhing. Wie es scheint, hat Brüning entspreche­nd seiner vorsichtig­en Art formell die Hinreise nach Deutschlan­d nicht beantragt, sei es, dass er die Aussichtsl­osigkeit der baldigen Schaffung einer zentralen Reichsgewa­lt besser überschaut­e, sei es, weil er sich keiner Ablehnung aussetzen wollte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany