Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Geschichte der Bienen
Roman Folge 23
Ausnahmsweise wurde ich nicht vom Wecker wach, sondern vom Licht. Die Sonne wärmte mir das Gesicht, und ich blieb liegen und spürte mit geschlossenen Augen,wie die Temperatur im Raum langsam anstieg. Dann gelang es mir endlich, sie zu öffnen und mich umzusehen. Das Bett war leer. Kuan war schon aufgestanden.
Ich ging zu ihm in die Küche. Er saß mit einer Tasse Tee in der Hand da und blickte auf die Felder, während Wei-wen auf dem Boden spielte. Es war so still, ein Ruhetag für uns alle, so wie es angeordnet worden war. Sogar Wei-wen spielte besonnener als sonst. Langsam schob er ein rotes Spielzeugauto über den Boden und brummte nur leise.
Der kurzgeschnittene Nacken, die dicken kleinen Finger, die das Auto hielten, der Mund, der so eifrig brummte, dass sich kleine Speichelblasen auf seinen Lippen sammelten. Sein Enthusiasmus. Er hätte sicher noch Stunden so sitzen kön
nen, kleine Straßen dort unten bauen, mit allen Fahrzeugen, die er besaß, Städte voller Leben.
Ich setzte mich zu Kuan und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Der Tee war fast kalt, also musste er schon lange hier sitzen.
„Was möchtest du unternehmen?“, fragte ich ihn schließlich. „Wie sollen wir unseren freien Tag verbringen?“
„Tja… ich weiß nicht… was möchtest du denn?“
Ich stand auf. Er wusste genau, was er wollte, ich hatte ihn schon mit ein paar Arbeitskollegen darüber sprechen hören, was heute in dem Zentrum des kleinen Orts stattfand, den wir Stadt nannten, der Platz wurde für ein großes Essen hergerichtet, mit langen Tischen und einem Unterhaltungsprogramm.
„Ich möchte unseren Tag mit WeiWen verbringen“, sagte ich unbekümmert.
Er lächelte milde. „Das möchte ich auch.“ Aber er sah mir nicht in die Augen. „Wir haben viele Stunden, da können wir einiges schaffen. Ich würde ihm so gern das Zählen beibringen“, erklärte ich.
„Hm.“Noch immer dieser ausweichende Blick, als würde er nachgeben, obwohl ich wusste, dass das Gegenteil der Fall war.
„Du hast mich gefragt, was ich möchte“, sagte ich.
„Und das möchte ich.“
Er stand auf, dann ging er zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und massierte sie leicht. Es war eine Massage, mit der er mich überreden wollte, er versuchte, meinen wunden Punkt zu treffen, und wusste, dass ich ihm verbal zwar widerstehen konnte, aber nur selten physisch.
Ich wand mich vorsichtig aus seinem Griff, er durfte nicht gewinnen. „Kuan…“
Doch er lächelte mich nur an und nahm meine Hand. Dann zog er mich zum Fenster und stellte sich hinter mich, während er seine Hände von meinen Schultern die Arme hinab bis zu meinen Händen gleiten ließ.
„Sieh hinaus“, sagte er leise und verschränkte seine Finger mit meinen.
Ich versuchte, mich vorsichtig loszumachen, aber er hielt mich fest. „Sieh hinaus.“
„Warum?“
Er drückte mich ruhig an sich, und ich tat, was er sagte. Die Sonne schien. Es schneite weiße Blütenblätter. Der ganze Boden war damit bedeckt. Die Blätter wirbelten durch die Luft, leuchteten phosphoreszierend weiß im Licht. Die Reihen der Birnbäume schienen unendlich. Angesichts dieser Menge von Blüten wurde mir schwindelig. Ich sah sie jeden einzelnen Tag, jeden einzelnen Baum. Aber nie so wie heute. Als Ganzes.
(Fortsetzung folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRUP
PE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUNG: URSEL AL