Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein verzweifeltes Land
ANALYSE Der Libanon galt einmal als Schweiz des Nahen Ostens. Das ist unendlich lang her – der kleine Staat am östlichen Mittelmeer ist heruntergewirtschaftet und von Korruption zerrüttet. Die Explosionskatastrophe von Beirut erschüttert auch das politisc
BEIRUT Was könnte die Steigerung von „grob fahrlässig“sein? Grammatisch ist das ein schwieriges Unterfangen. Aber für die Explosion, die am Dienstag weite Teile der libanesischen Hauptstadt Beirut erschütterte und im Hafen sowie dessen benachbartem Viertel nichts als Verwüstung hinterließ, müsste eigentlich eine Steigerung erfunden werden. Und sei es nur, um die Verantwortlichen für das Inferno damit konfrontieren zu können.
Eine nackte Zahl lässt die Gewalt der Explosion ahnen: Bei einem der blutigsten Anschläge in der US-GEschichte vor dem 11. September, dem Attentat auf das Gebäude einer Bundesbehörde 1995 in Oklahoma City, starben 168 Menschen. Das Gebäude stürzte in sich zusammen, im Umkreis von 16 Blocks wurden Häuser beschädigt, 86 Autos brannten aus. Die Attentäter benutzten für ihre Bombe eine Mixtur mit 23 Kilogramm Ammoniumnitrat. Am Ort der Explosion vom Dienstag, im Hafen von Beirut, waren mehr als 2700 Tonnen dieses Stoffs gelagert.
Die Chemikalie kann bei Hitze Gase bilden und sich bei Verunreinigung, etwa mit Öl, selbst entzünden. Das Ammoniumnitrat in Beirut war bereits vor sechs Jahren von einem Schiff geladen und danach offenbar unsachgemäß gelagert worden. Möglicherweise spielten auch Feuerwerkskörper eine Rolle, die angeblich in Brand geraten waren.
Dass die Katastrophe anscheinend kein Anschlag war, macht sie für die Libanesen nicht weniger politisch. Denn für die Menschen ist der Dienstag ein weiterer Beweis dafür, dass sie inzwischen in einem völlig gescheiterten Staat leben. Die „Schweiz des Nahen Ostens“, als die sich der Libanon einst gerne vermarktet hat, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Bereits vergangenes Jahr waren die Libanesen monatelang gegen die Misswirtschaft und Korruption ihrer regierenden Eliten auf die Straße gegangen. Das Land erlebte eine Wirtschaftskrise bisher unbekannten Ausmaßes. Ein Weltbank-bericht hatte damals die Befürchtung formuliert, dass die Hälfte der Libanesen unter die Armutsgrenze rutschen könnte. Mit der darauf folgenden Corona-krise wuchs sich die Misere zu einer veritablen Katastrophe aus. Der damalige Sozialminister Ramzi Musharrafieh warnte im Frühjahr, dass drei Viertel der Libanesen nicht mehr ohne finanzielle Unterstützung oder andere Arten von Hilfslieferungen über die Runden kämen. Dass der kleine Libanon mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, ist eine zusätzliche Belastung.
Die Verzweiflung ist überall zu spüren. Auf Facebook tauchten in den vergangenen Monaten vermehrt Seiten auf, auf denen Libanesen Waren zu tauschen begannen – auch weil sich der Wert der Landeswährung, des Libanesischen Pfunds, im freien Fall befand. Motto solcher Tauschaktionen: „Ich habe ein paar schicke Frauenschuhe und brauche dringend Kinderkleidung.“
Die Verzweiflung hat im Libanon viele Gesichter. Am 3. Juni schoss sich der 61-jährige Ali al Hik mitten auf der Beiruter Einkaufsstraße Al Hamra mit einer Pistole in den Kopf. Neben ihm auf dem Boden lagen eine libanesische Flagge, ein polizeiliches Führungszeugnis, das ihm Unbescholtenheit attestierte, und eine Abschiedsnotiz: „Nicht ich bin ein Ungläubiger, der Hunger ist der Ungläubige.“
Bei alldem erweisen sich die zerstrittene politische Elite und die regierenden Familienclans als unfähig, die Krise zu meistern. Sie arbeiten immer noch in den alten Schemata: etwa der Aufteilung der Posten nach Konfessionen. Wenige Mächtige sind bereit, das System oder sich selbst zu ändern. Stattdessen versucht die Mehrheit, sich durch die üblichen Kuhhandel durch die Krise zu mogeln.
Die gigantische Explosion in Beirut hat nicht nur eine große Zahl von Menschen getötet oder verletzt, sie hat nicht nur das Leben Tausender Familien zerstört – sie hat auch die ohnehin wackligen Grundfesten des politischen Systems im Libanon erschüttert. Schon einen Tag nach der Explosion sprachen viele Libanesen davon, dass sie wieder auf die Straße gehen wollen, zu noch größeren Demonstrationen.
Der Ärger über Misswirtschaft, Nachlässigkeit und Korruption dürfte noch wachsen. Die Regierung verhängte einen zunächst zweiwöchigen Ausnahmezustand – nicht nur, um im buchstäblichen Sinn die Scherben zusammenzukehren, sondern auch in Erwartung dessen, was geschieht, wenn sich die Trauer der Libanesen in Wut verwandelt. Die Uno hat bereits vor Engpässen in der Lebensmittelversorgung gewarnt – vor allem Mehl könne kurzfristig knapp werden, teilte die Ernährungsorganisation Fao mit.
Insofern war die Explosion am Dienstag im Libanon wahrscheinlich nur der Anfang. Ihr dürften mindestens ebenso große politische und soziale Erschütterungen folgen.
Für die Menschen ist die Katastrophe ein weiterer Beweis, dass der Staat gescheitert ist