Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Türkei kämpft mit der zweiten Welle
Die Corona-zahlen steigen – gerade jetzt, da die deutsche Reisewarnung gelockert ist.
ISTANBUL Volle Strände sind im Tourismus-land Türkei normalerweise ein Anlass zur Freude – doch derzeit sind die dichten Reihen der Liegestühle ein Alarmzeichen. Die Lage an den Küsten sei besorgniserregend, sagt der Arzt Afsin Emre Kayipmaz, Mitglied im wissenschaftlichen Corona-beirat der türkischen Regierung. Während des islamischen Opferfestes am vergangenen Wochenende sind Hunderttausende an die Ägäis und in andere Ferienregionen gereist.
Schon vor diesem Massenansturm hatte die Türkei mit einem dramatischen Anstieg der Fallzahlen zu kämpfen. Nun droht die Lage außer Kontrolle zu geraten – ausgerechnet jetzt, da Deutschland die Reisewarnung teils aufgehoben hat.
Die Bundesregierung hatte am Dienstagabend mitgeteilt, in der Region um das südtürkische Antalya sowie in den Ägäis-provinzen Mugla, Aydin und Izmir sei die Ansteckungsgefahr relativ gering. Die Gegenden wurden deshalb von der Reisewarnung ausgenommen. Doch die drei Ägäis-provinzen gehörten zu den beliebtesten Ausflugsregionen des vergangenen Wochenendes. Das Opferfest sei eine „kritische Schwelle“gewesen, sagte der Mediziner Kayipmaz der Zeitung „Hürriyet“. „Leider sind wir an dieser Schwelle gestolpert.“
Nicht nur wegen der Urlauber sind Fachleute wie Kayipmaz besorgt. Ärztekammern und Krankenhäuser im ganzen Land melden deutlich mehr Corona-fälle.
Auch Gesundheitsminister Fahrettin Koca spricht von einer „ernsten Zunahme“. Nach seinen Angaben gibt es derzeit rund 235.000 Infektionen und knapp 5800 Todesfälle.
Kritiker werfen der Regierung allerdings vor, die Lage zu beschönigen. So meldet der Gesundheitsminister landesweit rund 1000 neue Infektionen pro Tag – die Ärztekammer in Ankara zählt allein in der Hauptstadt täglich so viele Fälle. Im südosttürkischen Sanliurfa berichtet die dortige Ärztekammer von bis zu 350 neuen Infektionen jeden Tag. In der Großstadt Diyarbakir im Kurdengebiet sind laut der Ärztekammer alle Krankenhausbetten belegt.
Zum Misstrauen trägt bei, dass Minister Koca nun nicht mehr sagen will, wie viele Intensiv-patienten es gibt; in seiner Statistik ist jetzt nur noch von „schweren Fällen“die Rede. Der Journalist Sedat Ergin wies darauf hin, dass am 28. Juli, dem letzten Tag der alten Zählweise, 1280 Intensivpatienten behandelt wurden – so viele wie seit Anfang Mai nicht. Die offiziellen Zahlen müssten mit sechs multipliziert werden, um die wahre Lage abzubilden, sagte ein ungenannter Arzt der Internetzeitung „Habertürk“.
Mit der Schließung von Moscheen, Ausgangssperren an Wochenenden und Reiseverboten hatte die Regierung im Frühjahr die Ausbreitung des Virus gebremst. Die Einschränkungen wurden im Juni aufgehoben. Nun ist man dabei, diese Erfolge zu verspielen. In den Fabriken wird gearbeitet, Busse und Bahnen sind wieder voll. Experten kritisieren, dass viele Türken Maskenpflicht und Abstandhalten eher locker sähen und glaubten, die Pandemie sei bereits besiegt. Kayipmaz sagte deshalb, man müsse darüber nachdenken, ob man wie geplant Ende August die Schulen wieder öffnen wolle.
„Leider sind wir an dieser Schwelle gestolpert“Afsin Emre Kayipmaz Arzt, zur Urlaubswelle am islamischen Opferfest