Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wut und Verzweiflu­ng

Die Explosion im Hafen von Beirut am Dienstag hat den Libanon ins Mark getroffen. Die Menschen stürzen in Armut, Geld für einen Wiederaufb­au fehlt.

- VON WEEDAH HAMZAH UND JAN KUHLMANN

BEIRUT (dpa) Der Mann mit den kurzen Haaren und dem Vollbart hat tiefe Ränder unter den Augen. Vielleicht waren die vergangene­n zwei Tage die schlimmste­n, die Assim al-hadsch in seinem Leben durchmache­n musste. Seit der fürchterli­chen Explosion im Hafen von Beirut hat er nur zwei Stunden geschlafen. Stattdesse­n: Operatione­n am Fließband im Clemenceau Medical Center unweit der Detonation. Fast 400 Verletzte wurden eingeliefe­rt, 80 befinden sich noch in kritischem Zustand: „Ich kann Ihnen sagen: Die Situation ist katastroph­al“, sagt der Mediziner mit brüchiger Stimme.

Die gewaltige Explosion hat große Teile der sonst lebendigen Stadt am Mittelmeer in eine Trümmerlan­dschaft verwandelt. Der Hafen liegt in Schutt und Asche. Die Wucht der Detonation hat auch die umliegende­n Wohngebiet­e erfasst: Fenstersch­eiben sind zersplitte­rt, Schilder und Fensterläd­en abgerissen, Fassaden zerstört, Autos umgekippt, Menschen weggefegt. Noch immer sind die Straßen mit Glassplitt­ern übersät. Auch die Suche nach Opfern geht weiter. Mehr als 130 Tote und rund 5000 Verletzte wurden bislang gezählt. Die Zahlen dürften steigen. Auch eine deutsche Diplomatin, Mitarbeite­rin der Botschaft in Beirut, starb, wie Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) mitteilte.

Libanons Gesundheit­ssystem stand wegen einer schweren Wirtschaft­s- und Finanzkris­e und der Corona-pandemie schon vor der Explosion am Rande des Kollaps. Ein Großteil der medizinisc­hen Güter muss aus dem Ausland importiert werden. Es gebe große Versorgung­sengpässe und zu wenig Benzin für die Generatore­n, sagt Al-hadsch, medizinisc­her Direktor des Zentrums. Wegen der Dollar-knappheit im Land könnten keine Vorräte mehr gekauft werden: „Trotz der Schwierigk­eiten haben wir es aber geschafft, mit der Lage fertig zu werden“, sagt er.

Schwer getroffen werden auch die mehr als eine Million syrischen Flüchtling­e im Land, von denen viele seit Jahren in Armut leben, ohne Aussicht auf Besserung. „Die Explosion hat mich an die schweren Bombardier­ungen in meiner Heimatstad­t Aleppo erinnert“, sagt die 40 Jahre alte Instar al-salih aus Nordsyrien, die mit ihren fünf Kinder in einem Raum unweit des Katastroph­enortes lebt. „Das ganze Fenster stürzte aufs uns herab.“Die UN warnen zudem, dass auch die humanitäre Lage im benachbart­en Bürgerkrie­gsland bedroht ist, weil sie nicht zuletzt über den jetzt zerstörten Beiruter Hafen lief.

Aus fast jedem Satz der Menschen im Libanon sind Verzweiflu­ng und Frust herauszuhö­ren. Viele Libanesen haben zwischen 1975 und 1990 einen blutigen Bürgerkrie­g erlebt. Doch selbst sie sagen: Die Detonation im Hafen ist das Schlimmste, was ihnen widerfahre­n ist.

Seit Monaten leidet das Land am Mittelmeer ohnehin unter einer schweren Wirtschaft­skrise, die durch die Corona-pandemie weiter verschärft wurde und große Teile der Bevölkerun­g in Armut getrieben hat. Die Preise, etwa für Lebensmitt­el, sind explodiert. Im Juni lag die Inflation bei 90 Prozent. In den sozialen Medien boten viele in den vergangene­n Wochen ihr Hab und Gut an, um noch irgendwie über die Runden zu kommen. Und jetzt diese Explosion, diese Zerstörung. Und kein Geld für einen Wiederaufb­au. „Wir sind einfach nur erschöpft“, sagt eine Frau aus Beirut. „Wir waren schon vorher am Abgrund.“

In die Verzweiflu­ng mischt sich wachsende Wut auf die politische Elite. Sie brach sich am Donnerstag Bahn, als Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron den Ort der Katastroph­e besuchte, begleitet von seinem libanesisc­hen Kollegen Michael Aoun. „Ihr seid alle Mörder“, schreit eine aufgebrach­te Frau von ihrem Balkon. „Wo wart Ihr gestern?“Später brüllte die Menge: „Aoun, Du bist ein Terrorist.“

Schon im vergangene­n Oktober hatten Massenprot­este begonnen, die ein neues politische­s System forderten. Die Korruption ist im Libanon allgegenwä­rtig und hat maßgeblich zum Verfall des Landes beigetrage­n. Die schwere Wirtschaft­s- und Finanzkris­e geht nicht zuletzt zurück auf eine Art Schneeball­system über Staatsanle­ihen, mit dem sich die Elite über Jahren hemmungslo­s an den knappen Ressourcen bedient hat.

Den Wiederaufb­au der zerstörten Gebiete kann der Libanon nur mit internatio­naler Hilfe schaffen. Die Schäden gehen in die Milliarden. Kritiker werfen der Elite vor, sie wolle nur ihren Reichtum retten, nicht einen Staatszerf­all verhindern. Reformen scheiterte­n auch an der ohnehin komplizier­ten Machtverte­ilung in dem kleinen Land.

Sie geht auf ein Proporzsys­tem aus dem Jahr 1943 zurück, das bislang als unantastba­r gilt. Aufgeteilt ist die Macht unter den Konfession­en: Der Präsident muss immer ein

Christ sein, der Regierungs­chef ein Sunnit, der Parlaments­präsident ein Schiit. Doch das Land ist auch über die Konfession­sgrenzen hinweg gespalten. Ein starker Flügel ist eng mit dem schiitisch­en Iran und Syrien verbunden, andere richten sich gen Westen oder dem sunnitisch­en Saudi-arabien aus. Und mittendrin sitzt die mächtige Hisbollah.

Die schiitisch­e Organisati­on, treu mit dem Iran verbunden, bildet im Libanon einen Staat im Staate. Sie kontrollie­rt etwa das Grenzgebie­t zum verfeindet­en Nachbarn Israel im Süden des Libanons. Die Hisbollah gehört auch der Regierung an - gegen sie und ihren charismati­schen Anführer Hassan Nasrallah kann keine Politik gemacht werden.

Das spürten auch die Demonstran­ten, die in den vergangene­n

Monaten auf die Straße gingen. Trupps der Hisbollah liefen mehrfach auf – eine eindeutige Warnung an die Demonstran­ten, es mit den Forderunge­n nach Reformen nicht zu übertreibe­n. Die Macht der Hisbollah, das war die Botschaft, darf nicht angetastet werden. Ohne Reformen aber dürfte die internatio­nale Gemeinscha­ft nur zögerlich Geld geben.

„Ich kann Ihnen sagen: Die Situation ist katastroph­al“Assim al-hadsch Arzt

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