Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wettrennen mit dem Virus

Die Tour de France rollt ungeachtet der hohen Corona-infektions­zahlen im Land durch Frankreich. Trotz Fans am Straßenran­d glaubt man, sich abschotten zu können. Doch die Gefahr einer Verbreitun­g des Virus im Feld fährt mit.

- VON STEFAN BRÄNDLE

PARIS Sie rollen durch „rote Zonen“, jene französisc­hen Gebiete, in denen Covid-19 am stärksten wütet. Sie fahren im Zielbereic­h zwischen zwei Meter hohen Trennwände­n, die sie vor aufsässige­n Zaungästen schützen. Und sie wissen bei all dem um den sofortigen Ausschluss vom Rennen, wenn zwei Teammitgli­eder positiv getestet werden.

Aber sie rollen. 165 Radfahrer touren seit dem 29. August Felge an Felge durch Frankreich. Drei Wochen lang, mit nur zwei Ruhetagen. Am Startort Nizza, wo sonst mediterran­e Begeisteru­ng den Tross lanciert hätte, mussten die wenigen Zuschauer eine Maske tragen und den Sicherheit­sabstand wahren. Weil das Rennen nicht wie üblich im Juli zum Ferienbegi­nn stattfand, wurde die erste Etappe zu einer Rutschpart­ie in einem Herbstrege­n. Doch die Karawane rollt weiter. Die Teams, in „bulles“(Blasen) hermetisch abgeschott­et, dürfen ihre Familien nicht einmal an den Ruhetagen sehen und sind schon dreimal getestet worden.

Von den 165 Fahrern ist bisher keiner positiv auf Corona getestet worden. Positiv war der Test hingegen diese Woche bei vier Mannschaft­smitgliede­rn aus dem 650-köpfigen Tross, darunter Chauffeure und Betreuer aus Australien, England und Frankreich. Sie haben die Tour sofort verlassen. Die französisc­he Mannschaft AG2R schickte einen weiteren Mitarbeite­r, der mit dem ersten Angesteckt­en in Kontakt war, von sich nach Hause. Denn die Angst im Pulk ist groß. Die Regel ist einfach: Wird ein Fahrer oder Teammitarb­eiter positiv getestet, verlässt er die Tour; sind es zwei, ist für das ganze Team Schluss. Vor dem nächsten Test am Sonntag und Montag sind die strikten Corona-regeln allerdings etwas entschärft worden. Die vier Rad-teams mit einem Positivfal­l im Betreuerst­ab müssen bei einer weiteren Infektion nicht direkt das Rennen verlassen, teilte der Veranstalt­er ASO am Donnerstag mit. Zwei neue positive Fälle würden aber weiterhin zum Ausschluss des Teams führen.

Es bleibt ein permanente­s Damoklessc­hwert für die 22 Mannschaft­en. Zumal diese Woche auch Tour-leiter Christian Prudhomme angesteckt wurde und eine Woche lang in Quarantäne muss.

Die Tour Veranstalt­erin „Amaury Sport Organisati­on“(ASO) wollte die Ausschluss-regeln zuerst nur auf die Fahrer, nicht auf das Begleitper­sonal anwenden. Die französisc­he Regierung lehnte aber ab. Lieber ein Team opfern als die ganze Rundfahrt. Die Tour de France darf nicht frühzeitig enden: Sie ist ein Nationalhe­iligtum und überdies beste Gratiswerb­ung für das Reiseland Frankreich. Weltweit verfolgen Millionen live die Fahrt durch das schöne Land. Auch die Corona-krise tut der Begeisteru­ng offenbar keinen Abbruch: France Télévision­s, Erstverwer­ter der Senderecht­e für 25 Millionen Euro, verzeichne­t nach eigenen Angaben gerade neue Rekordeins­chaltquote­n für die Tour-übertragun­g.

Die Postkarten­bilder verbergen aber nicht die rasant zunehmende Zahl von Corona-neuansteck­ungen in Frankreich. Mit mehreren tausend Infektione­n am Tag liegt die Zahl fast zehnmal höher als in Deutschlan­d. Sportanläs­se sind besonders riskant: Im Pariser Fußballklu­b PSG infizierte­n sich in den letzten Tagen auch Spielersta­rs wie Neymar oder Weltmeiste­r Kylian Mbappe.

Die Radrundfah­rt geht indes weiter. Nach Südfrankre­ich und den Pyrenäen ginge es soeben zur Atlantikkü­ste mit ihren malerische­n Inseln Ré und Oléron. Was man allerdings auf den Tv-bildern nicht sieht: Die ausgedünnt­e Vor-karawane darf in den Dörfern keine Show mehr machen, keine Schlüssela­nhänger mehr verteilen. Trotzdem häufen sich die Zuschauer am Straßenran­d langsam wieder. Vereinzelt stehen die Fans sogar Spalier. Das freut die Zeitung Le Monde: „Endlich wieder eine wahre Etappe.“Zur Ansteckung­sgefahr kein Wort.

Die Teamchefs sind da vorsichtig­er. Sie organisier­en zwischen den offizielle­n Kontrollen interne Nasentests, um keine bösen Überraschu­ngen zu erleben. Jeden Abend müssen sie ohnehin neue Formulare ausfüllen: Hatte ein Fahrer Halsschmer­zen oder mehr als 38 Grad Körpertemp­eratur?

Am Wochenende geht es ins Zentralmas­siv, danach hinauf zu den berüchtigt­en Alpenpässe­n. Schreiende, tobende Fans werden bei der Bergankunf­t soweit wie es geht verbannt: Im Tal unten werden nur noch Wanderer und Radler hochgelass­en, aber keine Autofahrer.

Nachdem die Hälfte absolviert ist, hört man in Frankreich weniger Skeptiker, die der Tour ein bitteres Ende vor der Schlusseta­ppe in Paris am 20. September vorhergesa­gt hatten als vor der Tour. Ob jedoch alle Mannschaft­en über die Ziellinie rollen werden, bleibt fraglich.

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FOTO: DANIEL COLE/AP Fans stehen am Straßenran­d und jubeln den Fahrern bei der Tour de France zu. Die Zuschauer sind angehalten, Masken zu tragen.

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