Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wettrennen mit dem Virus
Die Tour de France rollt ungeachtet der hohen Corona-infektionszahlen im Land durch Frankreich. Trotz Fans am Straßenrand glaubt man, sich abschotten zu können. Doch die Gefahr einer Verbreitung des Virus im Feld fährt mit.
PARIS Sie rollen durch „rote Zonen“, jene französischen Gebiete, in denen Covid-19 am stärksten wütet. Sie fahren im Zielbereich zwischen zwei Meter hohen Trennwänden, die sie vor aufsässigen Zaungästen schützen. Und sie wissen bei all dem um den sofortigen Ausschluss vom Rennen, wenn zwei Teammitglieder positiv getestet werden.
Aber sie rollen. 165 Radfahrer touren seit dem 29. August Felge an Felge durch Frankreich. Drei Wochen lang, mit nur zwei Ruhetagen. Am Startort Nizza, wo sonst mediterrane Begeisterung den Tross lanciert hätte, mussten die wenigen Zuschauer eine Maske tragen und den Sicherheitsabstand wahren. Weil das Rennen nicht wie üblich im Juli zum Ferienbeginn stattfand, wurde die erste Etappe zu einer Rutschpartie in einem Herbstregen. Doch die Karawane rollt weiter. Die Teams, in „bulles“(Blasen) hermetisch abgeschottet, dürfen ihre Familien nicht einmal an den Ruhetagen sehen und sind schon dreimal getestet worden.
Von den 165 Fahrern ist bisher keiner positiv auf Corona getestet worden. Positiv war der Test hingegen diese Woche bei vier Mannschaftsmitgliedern aus dem 650-köpfigen Tross, darunter Chauffeure und Betreuer aus Australien, England und Frankreich. Sie haben die Tour sofort verlassen. Die französische Mannschaft AG2R schickte einen weiteren Mitarbeiter, der mit dem ersten Angesteckten in Kontakt war, von sich nach Hause. Denn die Angst im Pulk ist groß. Die Regel ist einfach: Wird ein Fahrer oder Teammitarbeiter positiv getestet, verlässt er die Tour; sind es zwei, ist für das ganze Team Schluss. Vor dem nächsten Test am Sonntag und Montag sind die strikten Corona-regeln allerdings etwas entschärft worden. Die vier Rad-teams mit einem Positivfall im Betreuerstab müssen bei einer weiteren Infektion nicht direkt das Rennen verlassen, teilte der Veranstalter ASO am Donnerstag mit. Zwei neue positive Fälle würden aber weiterhin zum Ausschluss des Teams führen.
Es bleibt ein permanentes Damoklesschwert für die 22 Mannschaften. Zumal diese Woche auch Tour-leiter Christian Prudhomme angesteckt wurde und eine Woche lang in Quarantäne muss.
Die Tour Veranstalterin „Amaury Sport Organisation“(ASO) wollte die Ausschluss-regeln zuerst nur auf die Fahrer, nicht auf das Begleitpersonal anwenden. Die französische Regierung lehnte aber ab. Lieber ein Team opfern als die ganze Rundfahrt. Die Tour de France darf nicht frühzeitig enden: Sie ist ein Nationalheiligtum und überdies beste Gratiswerbung für das Reiseland Frankreich. Weltweit verfolgen Millionen live die Fahrt durch das schöne Land. Auch die Corona-krise tut der Begeisterung offenbar keinen Abbruch: France Télévisions, Erstverwerter der Senderechte für 25 Millionen Euro, verzeichnet nach eigenen Angaben gerade neue Rekordeinschaltquoten für die Tour-übertragung.
Die Postkartenbilder verbergen aber nicht die rasant zunehmende Zahl von Corona-neuansteckungen in Frankreich. Mit mehreren tausend Infektionen am Tag liegt die Zahl fast zehnmal höher als in Deutschland. Sportanlässe sind besonders riskant: Im Pariser Fußballklub PSG infizierten sich in den letzten Tagen auch Spielerstars wie Neymar oder Weltmeister Kylian Mbappe.
Die Radrundfahrt geht indes weiter. Nach Südfrankreich und den Pyrenäen ginge es soeben zur Atlantikküste mit ihren malerischen Inseln Ré und Oléron. Was man allerdings auf den Tv-bildern nicht sieht: Die ausgedünnte Vor-karawane darf in den Dörfern keine Show mehr machen, keine Schlüsselanhänger mehr verteilen. Trotzdem häufen sich die Zuschauer am Straßenrand langsam wieder. Vereinzelt stehen die Fans sogar Spalier. Das freut die Zeitung Le Monde: „Endlich wieder eine wahre Etappe.“Zur Ansteckungsgefahr kein Wort.
Die Teamchefs sind da vorsichtiger. Sie organisieren zwischen den offiziellen Kontrollen interne Nasentests, um keine bösen Überraschungen zu erleben. Jeden Abend müssen sie ohnehin neue Formulare ausfüllen: Hatte ein Fahrer Halsschmerzen oder mehr als 38 Grad Körpertemperatur?
Am Wochenende geht es ins Zentralmassiv, danach hinauf zu den berüchtigten Alpenpässen. Schreiende, tobende Fans werden bei der Bergankunft soweit wie es geht verbannt: Im Tal unten werden nur noch Wanderer und Radler hochgelassen, aber keine Autofahrer.
Nachdem die Hälfte absolviert ist, hört man in Frankreich weniger Skeptiker, die der Tour ein bitteres Ende vor der Schlussetappe in Paris am 20. September vorhergesagt hatten als vor der Tour. Ob jedoch alle Mannschaften über die Ziellinie rollen werden, bleibt fraglich.