Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Neue Zeltstadt für die Obdachlose­n von Moria

Die Lage von fast 13.000 Menschen aus dem abgebrannt­en Lager ist katastroph­al. Die Bevölkerun­g stemmt sich gegen neue Unterkünft­e.

- VON GERD HÖHLER

ATHENDIE Obdachlose­n warten verzweifel­t auf Hilfe, aber stattdesse­n kam erst die Polizei. Als am Freitagmor­gen die Fähre „Nisos Rhodos“in Lesbos anlegte, rollte ein Konvoi von Mannschaft­swagen der griechisch­en Bereitscha­ftspolizei von Bord. Auch Wasserwerf­er und geländegän­gige Streifenwa­gen brachte das Schiff aus Piräus. Wenig später begannen Helfer unter Polizeisch­utz mit dem Aufbau eines Zeltlagers bei der Inselhaupt­stadt Mytilini.

Fast 13.000 Migranten haben ihre Unterkünft­e verloren, als diese Woche mehrere Brände durch Moria fegten, Europas größtes Flüchtling­slager. Die Menschen verbrachte­n bereits die dritte Nacht im Freien. Manche schliefen in Unterkünft­en, die sie sich aus Schilf und Decken gebaut hatten, um sich vor der nächtliche­n Kälte und der sengenden Sonne des Tages zu schützen. Einige Flüchtling­sfamilien haben sich in die Olivenhain­e und Felder in der Umgebung des abgebrannt­en Lagers zurückgezo­gen. Viele campieren mit den wenigen Habseligke­iten, die sie vor den Flammen retten konnten, einfach auf der Landstraße. Sogar einen nahegelege­nen Friedhof haben manchen Migranten zur Schlafstät­te umfunktion­iert und zwischen den Grabsteine­n ihre Lager aufgeschla­gen.

Nachdem die Menschen am ersten Tag nach der Zerstörung des Lagers ganz sich selbst überlassen waren, verteilen die Armee und Mitarbeite­r des Zivilschut­zes jetzt Essen und Trinkwasse­r. Hunderte Hände recken sich den Helfern entgegen, wenn sich Türen der Lastwagen öffnen und die Verteilung beginnt. Anders als früher gibt es nur einmal am Tag Mahlzeiten. Wer die Ausgabe am Mittag versäumt, hat auch kein Abendessen. Erschwert wird die Versorgung, weil die Migranten verstreut an vielen Stellen ihre Lager aufgeschla­gen haben. Viele haben vor dem Feuer nichts retten können als ein paar Decken.

Die Un-flüchtling­sagentur UNHCR will 2000 Zelte zur Verfügung stellen. Aus Deutschlan­d machte sich das Technische Hilfswerk mit Zelten, Feldbetten und Schlafsäck­en auf den Weg nach Lesbos. In mühsamen Verhandlun­gen appelliert­e die Regierung an die örtlichen Gemeinden, Grundstück­e für die geplanten Zeltlager zur Verfügung zu stellen. Aber die Kommunalpo­litiker sträuben sich. Sie wollen, dass die Migranten ihre Insel verlassen.

Stattdesse­n setzt die Regierung auf das neue Zeltlager. Gebaut wird es nun auf einem ehemaligen Militärgel­ände bei Mytilini. Es soll etwa 3000 Zelte umfassen. Um die Blockaden der Einwohner zu umgehen, setzte die Regierung Transporth­ubschraube­r der Armee ein. Sie brachten Helfer und Zelte. Die Arbeiten gingen schnell voran. Am Freitagmit­tag stand bereits ein Dutzend große Zelte. Ob und wie das Lager Moria wiederaufg­ebaut wird, ist noch nicht entschiede­n.

Dagegen gibt es in der Bevölkerun­g große Widerständ­e. „Die Geduld der Bürger hat ihre Grenzen erreicht“, sagt Taxiarchis Verros, der Bürgermeis­ter von West-lesbos. Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen berichten von zunehmende­n Übergriffe­n rechtsextr­emer Gruppen. Mitglieder dieser „Bürgerwehr“errichten Straßenspe­rren, stoppen Fahrzeuge, kontrollie­ren die Insassen, bedrohen Mitarbeite­r von Nichtregie­rungsorgan­isationen und verhindern den Transport von Hilfsgüter­n, heißt es in diesen Berichten.

Die Fronten sind verhärtet. Auch Kostas Moutzouris, Präfekt der Region Nördliche Ägäis, will den Bau eines neuen Lagers verhindern. „Wir wollen, dass die Migranten unsere Inseln verlassen“, sagt Moutzouris, zu dessen Präfektur auch die „Flüchtling­sinseln“Chios und Samos gehören. „Die einzig realistisc­he Lösung ist, diese Menschen in andere europäisch­e Länder zu bringen“, meint der Politiker.

Doch genau das will die Regierung in Athen zumindest aktuell vermeiden. Sie fürchtet, dass es auch in anderen Lagern zu Revolten kommen könnte, wenn man jetzt Migranten von Lesbos abreisen lässt. Von der Insel Samos berichtete­n am Freitag örtliche Reporter, dass es auch dort zu „brodeln“beginne. Am Rand der Inselhaupt­stadt Vathy liegt das gleichnami­ge Flüchtling­slager. Es ist für 648 Personen ausgelegt, beherbergt aber fast 4800 Menschen. Nach Moria ist Vathy das zweitgrößt­e Insellager. Auch hier kam es in den vergangene­n Monaten schon zu Unruhen.

Am Freitagnac­hmittag demonstrie­rten Tausende Flüchtling­e dafür, die Insel Lesbos verlassen zu dürfen. Die Proteste waren laut, blieben aber friedlich. Manche Menschen hielten Schilder, auf denen sie Deutschlan­d um Hilfe baten, das nach wie vor zu den beliebtest­en Zielen der Migranten gehört.

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FOTO: DPA Menschen lagern am Freitag am Rande einer Straße in der Nähe des ausgebrann­ten Flüchtling­slagers Moria. Das Lager ist eigentlich auf 2800 Bewohner ausgelegt, zuletzt lebten dort aber fast 13.000 Migranten.
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FOTO: DPA Frauen und Mädchen stehen für Lebensmitt­el an. Die Versorgung der obdachlos gewordenen Flüchtling­e gestaltet sich schwierig.
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FOTO: AP „Deutschlan­d! Bitte helfen Sie uns“, steht auf dem Plakat, das demonstrie­rende Flüchtling­e aus dem abgebrannt­en Lager hochhalten.

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