Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

In den russischen Regionen regt sich Widerstand gegen Putin

- VON ULRICH KRÖKEL

BERLIN Alexei Nawalny ist ansprechba­r. Der russische Opposition­elle hat eine Vergiftung mit dem Nervenkamp­fstoff Nowitschok überlebt. Mehr Informatio­nen über den Zustand des 44-Jährigen dringen derzeit nicht aus der Berliner Charite, in der Nawalny behandelt wird. Sicher aber ist: Der schärfste Kritiker von Kremlchef Wladimir Putin kann vorerst keine Kampagne mehr führen wie zuletzt in Sibirien, wo an diesem Sonntag Regionalwa­hlen stattfinde­n. In Tomsk zum Beispiel, wo Nawalny mutmaßlich attackiert wurde.

Veränderun­gen müssen in Russland aus den Regionen kommen: Zu dieser Einsicht war Nawalny in den vergangene­n Jahren gelangt. Allzu oft hatte er mit ansehen müssen, wie Polizisten in Moskau jede noch so kleine Kundgebung abräumten. Anders ist es zum Beispiel in Chabarowsk, an der Grenze zu China. Dort gewann 2018 der rechtsnati­onale Kandidat Sergei Furgal klar die Gouverneur­swahl. Zwei Jahre lang ließ der Kreml ihn gewähren. Furgal wurde immer populärer, weil er die Korruption bekämpfte. Dann tauchten Polizisten im Gouverneur­sbüro auf und nahmen den 50-Jährigen als mutmaßlich­en Auftragsmö­rder fest.

Für viele Menschen in Chabarowsk steht fest, dass der Kreml die Vorwürfe konstruier­t hat. Seit Juli protestier­en in der Stadt am Amur, gut 6000 Kilometer östlich von Moskau, jeden Samstag Tausende für die Freilassun­g des Gouverneur­s, aber auch namentlich gegen Präsident Putin – Genesungsw­ünsche für Alexei Nawalny inklusive. Der Kreml, so scheint es, findet dagegen keine Handhabe. Die Festnahme einzelner Organisato­ren hat den Widerstand nur weiter angefacht. An diesem Wochenende werden in der fernöstlic­hen Metropole bis zu 70.000 Menschen zu einer Kundgebung erwartet.

Kommentato­ren vergleiche­n die Protestwel­le bereits mit der Demokratie­bewegung in Belarus, wo es dem diktatoris­ch regierende­n Präsidente­n Alexander Lukaschenk­o seit Wochen nicht gelingt, die Revolte gegen seine Dauerherrs­chaft zu beenden. Lukaschenk­os größtes Problem ist die Breite der Proteste. „Die Bewegung ist dezentral und wächst von unten, es entstehen ständig neue Formen der solidarisc­hen Selbstorga­nisation“, erklärt die Politikwis­senschaftl­erin Olga Dryndova von der Forschungs­stelle Osteuropa in Bremen.

Ähnlich stellt sich die Lage für Putin in Sibirien dar, wo es zudem noch eine lange Tradition kosakische­r Ungebunden­heit gibt. Schließlic­h war es der Ataman Jermak Timofejewi­tsch, der im 16. Jahrhunder­t mit seinen „freien Kriegern“über den Ural nach Sibirien vordrang und das dünn besiedelte Land erschloss. Ihm folgten Kaufleute wie die Stroganows, Abenteurer und Siedler. Erst später entsandte Moskau auch Soldaten und Beamte.

„Der Himmel ist hoch, und der Zar ist fern“, lautet ein berühmtes russisches Sprichwort. Es hat seinen Ursprung in den entlegenen Regionen des Riesenreic­hes. Am fernsten war der Zar in Sibirien. Und dort gab es keineswegs nur kosakische­n Freiheitsw­illen. Die Verbannten, darunter Schriftste­ller wie Dostojewsk­i und Solscheniz­yn oder Revolution­äre wie Lenin, brachten Intellektu­alität und neuen Widerstand­sgeist in das Land. Im 21. Jahrhunder­t hat Putin zwar die Vertikale der Macht gestärkt, die vom Präsidente­n über die Gouverneur­e bis in die kleinsten Bürgermeis­terämter reicht. Doch der Zugriff aus Moskau hat seine Grenzen.

Daran versuchte Nawalny anzuknüpfe­n. Ziel des Anti-korruption­s-kämpfers war es, die Kandidaten der Kremlparte­i Einiges Russland in den Regionen zu schlagen, so wie 2018 in Chabarowsk, und Putin damit „den größtmögli­chen Schaden zuzufügen“. Für Nawalny zählte nur die konkrete Siegchance. Die Ideen einer liberalen Bürgergese­llschaft nach westlichem Vorbild spielten dabei keine Rolle. Zumal es dafür fern von Moskau so gut wie keine Anknüpfung­spunkte gibt. Was sich in den russischen Regionen regt, ist vielmehr Widerstand gegen zu viel Zentralmac­ht: gegen den „Zaren Wladimir“Putin.

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