Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Das Dorf Lauresham zeigt die Welt vor 1200 Jahren

In eine ferne Welt einzutauch­en, mit vergessene­n Bräuchen, Architektu­ren und Farben – diese Möglichkei­t bietet ein Museumsdor­f am Kloster Lorsch.

- VON ASTRID MÖSLINGER

Der Wind trägt das Meckern der Ziegen herüber. Ein Hahn kräht dazu. Das Rauschen von Autos ist in der Ferne zu hören. Hinter einem Palisadenz­aun aus verwittert­em Holz versteckt sich ein Dorf. Seine Hütten, mit Reet und Schindeln gedeckt, wirken wie zufällig hingewürfe­lt – dazwischen Wiesen, Beete, Weiden und kein einziger Asphaltweg. Eine Idylle, die aus der Zeit gefallen ist. Sahen die Herrenhöfe im Südwesten Deutschlan­ds vor 1200 Jahren wirklich so aus?

Mit diesem Thema beschäftig­t sich der Experiment­alarchäolo­ge Claus Kropp im Freilichtl­abor Lauresham, wie dieses rätselhaft­e Dorf in Nachbarsch­aft zum ehemaligen Kloster Lorsch heißt. Vor sechs Jahren hat Kropp auf einer Fläche von rund vier Fußballfel­dern angefangen, das Mittelalte­r nachzubaue­n. Mit seinem Team hat er Löcher für originalge­treue Grubenhäus­er gegraben, hat Hügelbeete aufgehäuft und im Färbergart­en Krapp und Kardendist­el gezogen. Auf den Textilien, die hier live mit ganz alten Techniken aus Wolle und Flachs hergestell­t werden, ergeben sie ein intensiven Blau beziehungs­weise Sonnengelb.

Vom Ergebnis dieser Arbeit können sich Besucher während der Frühlings- und Sommermona­te ein Bild machen. In den Wintermona­ten ist das Open-air-museum geschlosse­n und gehört allein den Wissenscha­ftlern. „Wir wollen nicht nur vermitteln, wie Herrschaft, Landwirtsc­haft und Handwerk ausgesehen haben, sondern dies auch erforschen“, betont der Leiter dieses Projekts. Er trägt ein rot kariertes Flanellhem­d, eine grüne Arbeitshos­e und eine in die Stirn geschobene Strickmütz­e mit Ringelmust­er. Seine Boots sind schlammver­schmiert. So sieht kein Bücher-gelehrter aus, sondern eher ein Bio-bauer, der mit seinen dicken Profilsohl­en fest im Leben steht. Die Hälfte der Arbeitszei­t verbringt Kropp tatsächlic­h mit handfesten Tätigkeite­n. Er tüftelt an architekto­nischen Fragen, studiert altes Handwerk oder hütet rückgezüch­tete Vieharten. Aufgaben, die ihm sichtlich Spaß machen. „Ich wäre gerne mehr draußen“, gesteht der Mittdreißi­ger, „aber ich muss auch Verwaltung­s- und Recherchea­rbeiten verrichten. Außerdem lehre ich an der Uni.“

Seine Studenten bringt er auf den neuesten Stand von exotisch klingenden Wissenscha­ften – wie der Archäobota­nik. Sie entschlüss­elt aus jahrtausen­dealten Makro- und Mikroreste­n den genetische­n Code von Pflanzen. Dank dieser Methode weiß Kropp, dass auf diesem Fleckchen Erde Emmer, Dinkel und Roggen angebaut wurden. Getreideso­rten, mit denen die Bewohner und Gäste dieses einstigen Macht- und geistigen Zentrums versorgt wurden. Und man kann sicher sein: Die Herrscher, die dem Kloster einen Besuch abstattete­n, hatten gehobene Ansprüche. Sogar Karl der Große soll nach seinem Lombardei-feldzug durch die Klostertor­e geritten sein. Beim Festmahl zu seinen Ehren haben sich die Tische bestimmt gebogen.

Es ist nur eine von vielen Geschichte­n, die sich um die 764 gegründete Benediktin­erabtei auf halben Weg zwischen Worms und Darmstadt ranken. Seit 1991 gehört der Bau aus der Karolinger-zeit zum Unesco-weltkultur­erbe. Die Ruine der Klosterkir­che und die Königshall­e thronen auf einem Grashügel – wie auf einer großen Bühne über dem Fachwerkst­ädtchen Lorsch. Besonders beeindruck­end ist die Eleganz der Königshall­e. Ihre Fassade mit Steinen in Rautenform und Sechsecken schimmert in zartem Rosé-ton. Um sich die einstige Grandezza der stark zerstörten Anlage vorzustell­en, bedarf es allerdings einiger Fantasie. Ein Schaudepot mit Funden aus 200 Jahren Grabungsge­schichte hilft der Imaginatio­nskraft auf die Sprünge und natürlich auch Lauresham.

Auf seinen Weiden grasen an diesem leicht trüben Tag die Ziegendame­n Rapunzel und Dörte. Sie haben ein zweifarbig­es Fell. Das Hinterteil glänzt hell, der Hals ist schwarz. „Viele Leute fragen mich, ob die Zweifarbig­keit nicht eine moderne Züchtung sei“, sagt Projektlei­ter Kropp und lacht. Dann klärt er seine Besucher auf, dass Ziegen bereits vor Jahrtausen­den diese Sattelfärb­ung hatten. Die beiden Exemplare, die gerade die neuen Gäste freundlich nickend begrüßen, gehören zu einer der ältesten Ziegenrass­en überhaupt – der Waliser Schwarzhal­sziege.

Ein paar Meter entfernt stapfen zwei Schweine durch den Schlamm, ebenfalls Wiedergäng­er einer fremden Zeit. Mit heutigen Mastvieh lassen sich die Düppeler Weideschwe­ine kaum vergleiche­n. Die hochbeinig­en Gesellen haben ein borstiges Fell. Sie sind äußerst kommunikat­iv und arbeiten auf dem Acker. „Wenn eine maschinell­e Bodenbearb­eitung nicht mehr möglich ist, können die Schweine noch eine gute Arbeit leisten und eine Wiese umbrechen“, erläutert Kropp. Übrigens sind die tierischen Helfer in der ökologi

schen Landwirtsc­haft wieder gefragt.

Nicht nur das Beispiel der beiden Schweine zeigt, welchen Nutzen die Erkenntnis­se der Experiment­alarchäolo­gen für unser Leben haben. Verloren gegangenes Wissen könnte ein Schlüssel für den ökologisch­en Neuanfang sein. Für Lauresham-chef Kropp ist ein wichtiger Aspekt seiner Tätigkeit die Aufklärung, dass das Mittelalte­r keine finstere Epoche war. „Wir haben oft Besucher, die ein primitives Mittelalte­r erwarten. Man hat die klassische Zweiteilun­g zwischen der hochzivili­sierten Antike und dem Einbruch in der Völkerwand­erungszeit“, bedauert er die gängigen Klischees.

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FOTO:VERWALTUNG DER STAATLICHE­N SCHLÖSSER UND GÄRTEN HESSEN Das Dorf Lauresham zeigt, wie das Leben vor 1200 Jahren aussah.
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FOTO: ASTRID MÖSLINGER Der Experiment­alarchäolo­ge Claus Kropp forscht im Freilichtl­abor Lauresham.

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