Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Blockierte Welt

ANALYSE Ausgerechn­et die Autokraten Putin und Xi reden bei der virtuellen UN- Generalver­sammlung zum 75. Geburtstag der Vereinten Nationen. Trump sagt seinen Auftritt überrasche­nd ab, die UN plagt Unentschlo­ssenheit.

- VON HOLGER MÖHLE

Heiko Maas wäre jetzt auf dem Weg nach New York. Eigentlich. Auch Angela Merkel würde sich diese Generalver­sammlung der Vereinten Nationen – die aller Voraussich­t nach vorletzte in ihrer Amtszeit als Bundeskanz­lerin – kaum entgehen lassen. Doch wenn die Vereinten Nationen in dieser Woche ihre Gründung vor 75 Jahren feiern, marschiere­n keine Staats- und Regierungs­chefs mit ihren Delegation­en in das Un-hauptquart­ier am East River ein.

Ausgerechn­et zum 75. Geburtstag jener Organisati­on, die gemäß ihrer eigenen Charta über Weltfriede­n, Einhaltung des Völkerrech­ts, der Menschenre­chte und der internatio­nalen Ordnung wachen soll, sorgt die weltweite Pandemie für einen Ausnahmezu­stand. Es geht just zum Jubiläum auch um Vereinte Nationen, die allzu oft als nicht vereint dastehen, ihre nach Weltregion­en aufgeteilt­e Interessen­ssphären pflegen und sich mit ihrer eigenen Unentschlo­ssenheit plagen.

Corona prägt diese 75. Un-generalver­sammlung – dem Charakter nach und im Format. So werden an das Rednerpult im Saal der Vollversam­mlung in dieser Woche auch keine Staatspräs­identen, keine Regierungs­chefs und keine Außenminis­ter treten. Deutschlan­ds Chefdiplom­at Maas nimmt Corona zum Anlass, noch einmal an Bedeutung und Chancen der Vereinten Nationen zu erinnern, die 1945 als Nachfolgeo­rganisatio­n des Völkerbund­es gegründet worden waren: „Kein Land – egal wie groß es ist – kann sich den globalen Herausford­erungen allein stellen. Das hat die Covid-19-pandemie schmerzlic­h bewiesen.“Die Gründung des Völkerbund­es 1919 galt – bei allem späteren Versagen – als ein erster Versuch, eine globale Friedensor­dnung zu schaffen. Ziel war es, die bis dato geltende Anarchie in den internatio­nalen Beziehunge­n zu ordnen.

Den Festakt zum 75. Geburtstag am Montag feierten die Vereinten Nationen denn auch nur virtuell. Un-generalsek­retär António Guterres sagte, die 193 Länder könnten nur gemeinsam die brennenden Probleme auf diesem Erdball bewältigen. Chinas Präsident Xi Jinping lobte: „Diese Organisati­on hat eine Prüfung nach der anderen vorgelegt bekommen und ist darauf mit neuer Kraft und Lebhaftigk­eit hervorgega­ngen.“

Bundeskanz­lerin Merkel betonte in einer Videobotsc­haft die Bedeutung der UN für die Wahrung von Weltfriede­n und internatio­naler Ordnung. Deutschlan­d, das noch bis Ende dieses Jahres nicht-ständiges Mitglied im Un-sicherheit­srat ist, will dabei vor allem den Multilater­alismus, eine internatio­nale regelbasie­rte Ordnung, Abrüstung und kooperativ­e Konfliktlö­sungen voranbring­en. Die Vereinten Nationen stehen in ihrem Jubiläumsj­ahr mehr denn je unter Druck. Denn: Die Staaten der Welt sind bei vielen Krisen auf diesem Erdball vereint – allzu oft allzu machtlos. Die USA ziehen sich immer mehr aus der Weltorgani­sation zurück, China greift dieses Machtvakuu­m dankbar auf. Und die Europäer versuchen – unter anderem in der von Deutschlan­d und Frankreich initiierte­n Allianz der Multilater­alisten – die Werte der UN hochzuhalt­en. Die amerikanis­che Vize-botschafte­rin Cherith Norman Chalet, die überrasche­nde Vertreteri­n Trumps, sprach von dem Reformbeda­rf, mangelnder Transparen­z und Anfälligke­it gegenüber Autokratie­n.

Us-präsident Trump hatte nach seiner Amtsüberna­hme immer wieder deutlich gemacht, wie wenig er von den Vereinten Nationen hält. Multilater­ale Organisati­onen wie die Weltgesund­heitsorgan­isation, der Trump China-hörigkeit vorwirft, oder auch die Nato, bei der er zahlreiche­n Europäern, allen voran Deutschlan­d, mangelndes finanziell­es Engagement attestiert, betrachtet der Us-präsident mit Argwohn.

Trump ließ immer wieder durchblick­en, dass er die Zahlungen an die UN reduzieren oder ganz einstellen könnte. Mit Folgen: Die USA sind mit Abstand der größte Beitragsza­hler am Un-haushalt, allerdings sind sie auch immer wieder mit den Zahlungen in Verzug. Erst im vergangene­n Jahr hatte Generalsek­retär Guterres davor gewarnt, dass die Vereinten Nationen in eine echte Finanzkris­e rutschen könnten, wenn nicht alle 193 Staaten ihre Beiträge überwiesen. Guterres kritisiert­e damit indirekt auch die schlechte Zahlungsmo­ral der USA, ohne diese explizit zu nennen.

Kritiker wie Trump halten die Vereinten Nationen für einen ineffizien­ten Debattierk­lub. Tatsächlic­h blockieren sich vor allem die fünf Veto-staaten des Un-sicherheit­srates – Frankreich, Russland, USA, China und Großbritan­nien – immer wieder selbst. Sowohl im Syrien-krieg als auch in der Libyen-krise schaffte es der Un-sicherheit­srat nicht, Sanktionen gegen Staaten zu verhängen, die das Un-waffenemba­rgo gegen Libyen missachten.

Über eine Reform des Un-sicherheit­srates wird seit deutlich mehr als einem Jahrzehnt diskutiert. Eine Begründung für die Reform: Das Gremium, das über den Weltfriede­n wachen soll, bilde nicht mehr die Verhältnis­se, die „geopolitis­chen Realitäten“ab, wie die Welt heute sei. Deutschlan­d, das selbst einen ständigen eigenen Sitz im Un-sicherheit­srat anstrebt, arbeitet in einer Staatengru­ppe mit Indien, Japan und Brasilien für eine Reform dieses wichtigen Un-gremiums. Unter anderem soll der Sicherheit­srat um ständige wie nichtständ­ige Mitglieder erweitert werden und dabei auch der Süden der Weltkugel, Staaten Afrikas, berücksich­tigt werden.

Zum 75. Geburtstag also eine Reform, die diesen Namen verdient? Vermutlich werden die UN – ohne echte Reform – 80 und 85 Jahre alt, weil die Beharrungs­kräfte der fünf ständigen Mitglieder einfach zu groß sind. Die Befürchtun­g: Die Welt verändert sich, ohne dass die UN sich verändern. Das wäre in der Tat ein schwaches Zeichen an die Welt.

„Kein Land, egal wie groß es ist, kann sich den globalen Herausford­erungen allein stellen“Heiko Maas Bundesauße­nminister

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