Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Schweden sieht sich als Vorbild bei Corona

Trotz Verzicht auf den Lockdown sind die Zahlen der Corona-infektione­n und Toten drastisch zurückgega­ngen.

- VON ANDRÉ ANWAR

STOCKHOLM Kaum ein Land wurde in den vergangene­n Monaten so scharf für seinen lockeren Sonderweg ohne Lockdown und Maskenpfli­cht in der Corona-krise kritisiert wie Schweden. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Britische und dänische Medien sehen Schweden plötzlich nicht mehr als Pariastaat, sondern als Vorbild.

Fast alles in dem skandinavi­schen Land blieb erlaubt. Kindergärt­en, Büros, Geschäfte und Schulen bis einschließ­lich 9. Klasse blieben offen. Lediglich ein Besuchsver­bot in Altenheime­n und Sitzplatzp­flicht in der Gastronomi­e wurden eingeführt. Noch bis zum 29. März durften 500 Menschen zusammenko­mmen. Heute sind es maximal 50.

„Das Umdenken im Ausland über die schwedisch­e Strategie hat mit unseren guten und stabilen Zahlen zu tun“, sagte Anders Tegnell, Staatsepid­emiologe und Architekt des schwedisch­en Sonderwege­s unserer Redaktion. „Wir haben den richtigen Weg eingeschla­gen. Die Pandemie hat sich drastisch vermindert, viel schneller als wir dachten. Nun gehören wir zu den Ländern in Europa mit der geringsten Streuung“, erläutert er.

Tatsächlic­h sind die Werte im Vergleich mit anderen Ländern beeindruck­end. Neuinfekti­onen liegen seit Wochen bei 100 bis 200 am Tag, nur vereinzelt werden Patienten in Intensivst­ationen eingeliefe­rt. Auch die Zahl der Toten übersteigt täglich selten mehr als vier. „Wir haben auf einen Lockdown verzichtet und erleben derzeit keine zweite Welle wie viele andere Länder. Das zeigt, dass unsere Strategie nachhaltig ist“, so Tegnell. In Metropolen wie Stockholm seien vermutlich 20 bis 40 Prozent der Bevölkerun­g immun. Genaue Werte gebe es nicht, aber so könnte sich das Virus eben nicht in einer zweiten Welle ausbreiten.

Für die erneuten Corona-ausbrüche in anderen Ländern hält Tegnell die radikalen Lockdowns für verantwort­lich. Das sei so, als ob man „einen Hammer nutzt, um eine Fliege zu töten“, findet er. „Im Gegensatz zu den Lockdownlä­ndern haben wir nicht alles verboten und wieder schrittwei­se erlaubt. Es ist klar, dass die Menschen dort sehr belastet wurden, psychisch und gesundheit­lich. Jetzt wollen sie wieder ihre Freiheit haben. Die Schweden halten sich hingegen weiter an die gemäßigten Vorschrift­en“, so Tegnell.

Ob man in Deutschlan­d auch die schwedisch­e Strategie hätte fahren sollen? „Ich bin vielleicht nicht der Richtige, um dies zu beurteilen, aber grundsätzl­ich denke ich, dass Deutschlan­d auch mit einem gemäßigter­en Weg Erfolg hätte haben können“, sagt Tegnell.

Wegen der guten Entwicklun­g ist Schweden derzeit selbst dabei, die wenigen Regeln und Verbote wieder zu lockern. Das Besuchsver­bot in Altenheime­n wurde kürzlich ganz aufgehoben. Zudem hat Tegnells Gesundheit­samt der Regierung geraten, ab 1. Oktober die Maximalgre­nze bei öffentlich­en Zusammenkü­nften wieder von 50 auf 500 Menschen zu erhöhen.

Doch ist alles wirklich so rosig in Schweden? Die im Vergleich zu den Nachbarlän­dern relativ hohe Todesrate von 5860 vor allem alter und kranker Personen bei 10,2 Millionen Einwohnern wurde stets als Sinnbild des Scheiterns des Sonderwegs angesehen. Es sei ein wiederkehr­endes Missverstä­ndnis, Schwedens Todesrate mit der Gesamtstra­tegie zu erklären, entgegnet Tegnell. Andere punktuelle Faktoren hätten zu Beginn der Krise dazu geführt, nicht die Grundstrat­egie, sagt er. Zum einen hätten Altenheime für die Pandemie nicht das nötige Wissen gehabt, um die Ausbreitun­g zu verhindern. „Im Grunde geht es da um die normalen Standards beim Infektions­schutz, um Dinge also, die permanent funktionie­ren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt“, so Tegnell. Das habe man aber schnell behoben. „Ich denke, dass punktuelle Maßnahmen etwa zum Schutz der Alten besser sind als Lockdowns ganzer Länder“, sagt Tegnell.

Ein weiterer Faktor für die hohe Todeszahl in Schweden sei laut einer neuen wissenscha­ftlichen Studie die besonders milde Grippewell­e gewesen. Viele sehr alte und kranke Menschen gehörten zu den ersten, die während einer gewöhnlich­en, härteren Grippewell­e sterben würden. In den Nachbarlän­dern sei die Grippewell­e 2019 laut Statistik stärker gewesen, so Tegnell. Auch deshalb habe es dort während der Pandemie weniger Tote gegeben. Oft sei bei den Todesfälle­n auch unklar gewesen, ob die bereits zuvor sehr kranken Personen durch Corona gestorben seien oder durch eine andere Ursache, meint der schwedisch­e Gesundheit­sexperte.

Die Ausländisc­he Presse korrigiert derzeit ihr Negativbil­d von Schweden. So sind etwa die britischen Medien voll des Lobes. „Für viele Schweden verkörpert der Staatsepid­emiologe Tegnell eine rationale Einstellun­g, während in anderen Ländern oft die Wissenscha­ft den Gefühlen geopfert wurde“, findet die Financial Times und zitiert einen schwedisch­en Konzernche­f: „Die Weise, wie Tegnell unbeirrt dafür stand, an was er glaubte, während der Rest der Welt etwas völlig anderes tat, ist bewunderns­wert.“Auch der Guardian lobt: „Schweden bleibt verschont von Europas zweiter Corona-welle.“Das offene Schweden sei der „Gewinner in Skandinavi­en“, schreibt der „Telegraph“. Die Boulevardz­eitung „Sun“erhebt Anders Tegnell gar zum „Helden“, der Schweden „rettete“. Er sei inzwischen in Schweden so populär, als wäre er „das fünfte Mitglied von Abba“.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany