Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Angeklagte­r verharmlos­t Missbrauch

Im sogenannte­n Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach hat der Angeklagte Jörg L. im Prozess vor dem Landgerich­t Köln zum ersten Mal selbst gesprochen.

- VON CLAUDIA HAUSER

KÖLN Jörg L. tauchte zuletzt jeden Tag ab in das Leben, das sein ehemals bester Freund im Prozess vor dem Landgerich­t Köln in der vergangene­n Woche als „zweite Schiene“bezeichnet hatte. Jeden Tag schrieb er Nachrichte­n mit drei weiteren Männern in einem Threema-chat, in denen es um den sexuellen Missbrauch kleiner Kinder ging, aber auch um „normale Themen wie das Grillen“, wie Jörg L. dem Psychiater Friedrich Krull erzählt hat. Der Angeklagte gilt als zentrale Figur im sogenannte­n Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach.

Jeden Tag soll er in der letzten Zeit vor seiner Festnahme im Herbst 2019 auch seine eigene Tochter missbrauch­t haben. Bilder des Missbrauch­s soll er mit seinen Chatpartne­rn geteilt haben – nicht nur im Vierer-chat, sondern vor allem auch im Austausch mit Tausenden Pädokrimin­ellen in weiteren Chats.

Krull wird im Prozess sein Gutachten über Jörg L. noch vorstellen, am Montag befragte der Vorsitzend­e Richter den Psychiater aber zunächst zum Angeklagte­n, mit dem

Krull zwei Tage lang gesprochen hat. Der 43-Jährige scheint davon überzeugt zu sein, seiner heute drei Jahre alten Tochter keine Gewalt angetan zu haben. Was er mit ihr gemacht habe, sei „ohne jeden Zwang“geschehen, wie er dem Psychiater gesagt hat. „Er sagte mir, seine Tochter sei durchaus in der Lage gewesen, Nein zu sagen, wenn sie etwas nicht gewollt habe – wenn sie zum Beispiel etwas nicht essen oder einen bestimmten Pulli nicht anziehen wollte“, sagt Krull. Jörg L. habe betont, dass in der Vierer-chat-gruppe keiner dabei gewesen sei, der „irgendwie gewalttäti­g mit Kindern war“.

Auch Jörg L. selbst erklärt sich am siebten Prozesstag bereit, etwas über sein Leben zu erzählen. Vor etwa 17 Jahren hat er laut eigener Aussage bemerkt, dass er sexuelles Interesse an Kindern hat. Im Jahr 2014 sei er erstmals auf Kinderporn­ografie gestoßen, „im Internet“. Drei Jahre später habe er überlegt, sich wegen seiner pädophilen Neigung Hilfe zu holen, „kurz vor der Geburt meiner Tochter“, sagt er. Nach drei Fehlgeburt­en sei das Mädchen ein Wunschkind für ihn und seine Frau gewesen. Warum er sich dann keine Hilfe geholt habe, will der Vorsitzend­e wissen. „Aus Angst, Scham“, antwortet L. Seine Tochter soll er ab dem dritten Lebensmona­t missbrauch­t haben. „Er hatte immer Angst, das könnte rauskommen“, sagt Krull. „Als die Sache mit Lügde bekannt wurde, träumte er von einer Hausdurchs­uchung.“

Als die Polizei tatsächlic­h im vergangene­n Oktober mit einem

Durchsuchu­ngsbeschlu­ss vor seiner Tür stand, nutzte Jörg L. seinen letzten Abend in Freiheit, um seiner Frau zu gestehen, „was ich mit meiner Tochter gemacht hab“, wie der Angeklagte im Prozess sagt. An jenem Abend habe er ihr auch erzählt, dass er als Grundschül­er von einem 15-Jährigen sexuell missbrauch­t worden sei.

Jörg L. behauptet, diese Erlebnisse bis dahin verdrängt und niemandem davon erzählt zu haben. Die Staatsanwä­ltin führt aber den Threema-chat an, in dem Jörg L. seine eigenen Missbrauch­serfahrung­en ausgebreit­et – und als für ihn eher positive Erfahrung beschriebe­n hat. „Ich habe mir das schön geredet“, sagt L. „Ich hätte sicher anders darüber geschriebe­n, wenn ich den Missbrauch aufgearbei­tet hätte.“Überhaupt habe er in den Chats oft übertriebe­n und ganz normale Situatione­n sexualisie­rt beschriebe­n und „aufgebausc­ht“. Er glaubt, dass er „nie so weit gegangen wäre“, wenn er nicht auf diese Gruppe gestoßen sei.

Sexueller Missbrauch zieht sich offenbar durch die gesamte Familienge­schichte des Angeklagte­n. Er selbst soll sich als 16-Jähriger mehrfach an seiner damals neun Jahre alten Cousine vergangen haben. Die heute Erwachsene hat auch im Prozess als Zeugin ausgesagt. Seine Mutter und zwei Tanten sollen von deren Stiefvater missbrauch­t worden sein. Und auch Jörg L.s Ehefrau hat wohl sexuellen Missbrauch erleben müssen.

Seine Freunde und ein Großteil seiner Familie haben sich von L. abgewandt. Seit Oktober vergangene­n Jahres hat ihn noch niemand im Gefängnis besucht. Sein Vater und sein jüngerer Bruder haben aber inzwischen Besuchsant­räge gestellt. Von seiner Ehefrau hat er einmal einen Brief bekommen – „Scheidungs­post“, wie Krull sagt. In Haft habe er kaum Kontakt zu anderen, sagt L. Die anderen Gefangenen wissen nicht, warum L. in Haft ist, weil Missbrauch­stätern im Gefängnis Gewalt droht.

Bevor es am Montag um die 79 Taten geht, die die Staatsanwa­ltschaft Jörg L. vorwirft, müssen die Zuschauer den Saal verlassen. In der kommenden Woche geht der Prozess mit den Plädoyers in die Schlusspha­se.

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