Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Israelis hadern mit dem zweiten Lockdown
Das Coronavirus spaltet das Land zwischen Säkularen und Religiösen. Sie machen sich gegenseitig für die Misere verantwortlich.
TEL AVIV Bnei Brak ist nur wenige Autominuten von der pulsierenden Stadt Tel Aviv entfernt, doch überquert man die Grenze in die ultraorthodox geprägte Stadt, ist es, als würde man in eine andere Welt eintauchen. Die Männer in Bnei Brak tragen Schtreimels und schwarze Hüte, viele der Frauen Perücken – und mittlerweile tragen die meisten von ihnen auch Masken.
Bnei Brak gehört wie viele der ultraorthodoxen Städte und Stadtteile nach wie vor zu den Hotspots des Coronavirus. Auch Yenun Pinchas K., der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, lebt in Bnei Brak und trägt Hut und Maske. Seit Freitagmittag ist das Land zum zweiten Mal seit Ausbruch des
Coronavirus im Lockdown. Die Israelis dürfen ihre Wohnung nur auf 1000 Meter verlassen, Schulen sind geschlossen, Geschäfte mit Kundenverkehr ebenfalls. K. hält das für sinnvoll. Der erste Lockdown im März hat noch für Aufruhr in der ultraorthodoxen Gemeinde gesorgt. Dass die Synagogen geschlossen wurden, sahen die Strenggläubigen als Angriff auf auf ihren Lebensstil. Sie kritisierten ihre religiösen Parteien dafür, sich nicht energisch genug für sie einzusetzen. Mitte September, kurz bevor das Parlament den landesweiten zweiten Lockdown absegnete, trat der ultraorthodoxe Wohnungsbauminister Yaakov Litzman zurück – aus Protest.
Man könnte denken, dass er an der Sichtweise seiner ultraorthodoxen Communities vorbei agiert hat, doch möglicherweise hat er damit den Druck auf Netanjahu noch erhöht, den Strenggläubigen Zugeständnisse zu machen. Denn dass es dieses Mal keinen so großen Widerstand aus den ultraorthodoxen Gemeinschaften gegen den Lockdown gibt, könnte auch an großzügigen Ausnahmeregelungen für die Strenggläubigen liegen. In dieser zweiten Runde des Lockdowns bleiben die Synagogen geöffnet. Gläubige in Gruppen von zehn oder 25 Personen dürfen in Innenräumen beten, abhängig von der lokalen Infektionsrate. Das ist großzügig, denn für alle anderen Gelegenheiten gilt ein Maximum von zehn Personen.
Hedva Yaari ist wütend. Die 51-Jährige sitzt am Strand in Tel Aviv und hält ein Schild: „Nein zum politischen Lügen-lockdown.“Für die Dozentin sind die Schließungen auf die Ultraorthodoxen zugeschnitten: „Wir Säkularen dürfen nicht ins Schwimmbad gehen, aber die orthodoxen Frauen dürfen ihr rituelles Bad nehmen, die Mikwe.“
Schuld daran ist nach Ansicht der Liberalen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Anfang September sollte eigentlich der Ampelplan vom Parlament abgesegnet werden. Ausgearbeitet wurde er vom Corona-beauftragten Roni Gamzu. Er sah vor, rote Zonen mit besonders hohen Infektionszahlen abzuriegeln, damit aber gleichzeitig einen landesweiten Lockdown zu verhindern. Betroffen hätte dies zehn Städte und Stadtteile, die Mehrzahl von ihnen ultraorthodox geprägt. Vier Bürgermeister kündigten an, sich den Vorschriften des Ampelplans zu widersetzen, sollte er in Kraft treten.
Netanjahu sorgte dafür, dass der Plan zugunsten einer nächtlichen Ausgangssperre zurückgezogen wurde, für Kritiker damit nutzlos. Die Infektionszahlen schossen sofort in die Höhe. In der vergangenen Woche lag die Zahl der Neuinfektionen fast jeden Tag bei über 5000, auf
Deutschland hochgerechnet wären dies täglich mehr als 50.000. Der Coronabeauftragte warnte vor 600 Toten pro Monat. Die Krankenhäuser schlugen Alarm.
„Das alles nur, weil Netanjahu nicht die Unterstützung der Ultraorthodoxen verlieren wollte“, sagt Yaari und redet sich in Rage. „Deswegen auch die zahlreichen Ausnahmeregelungen für die Ultraorthodoxen. Der Lockdown ist eigentlich ein Lockdown für Säkulare.“
Yenun Pinchas K. allerdings in Bnei Brak fühlt sich seinerseits diskriminiert: „Während alle auf uns Haredim schimpfen und uns für die Krise verantwortlich machen, haben die Menschen in Tel Aviv in überfüllten Bars und Restaurants gefeiert, ohne dass irgendjemand Distanz gewahrt oder Masken getragen hätte.“Er gehört zu der ultraorthodoxen Gruppierung der Sfaradim, traditionell wählen ihre Mitglieder die ultraorthodoxe Partei Schas. Von Leuten wie K. hängt Netanjahus politisches Überleben ab, denn mittlerweile sind die religiösen Parteien die einzigen verbliebenen, verlässlichen Koalitionspartner des innenpolitisch bedrängten Ministerpräsidenten.
Doch der Rest der Bevölkerung schäumt. Die Ruhe des Lockdowns könnte auch die Ruhe vor dem Sturm sein. So bleiben etwa sämtliche Restaurants und Cafés geschlossen. Auch das von Yonatan Borowicz, dem Betreiber des Restaurants M25 in einer Seitenstraße des Carmel Markts. Der 41-Jährige schiebt ein eisernes Tor mit einem Schwung nach oben und gibt den Blick frei auf sein Restaurant: Die Stühle sind hochgestellt, zwei gähnend leere Theken stehen im Raum. „Mit etwas Kompetenz von Seiten der Regierung hätte das Ganze vermieden werden können.“Er legt übriggebliebenen Salat in eine Plastikschale und zuckt mit den Achseln: „Aus dem ersten Lockdown haben wir gelernt, dass wir mit keiner Kompensation von der Regierung rechnen können.“
Laut Tomer Mor, dem Chef des Restaurantverbandes, haben 1000 Gaststätten und Cafés schließen müssen. Er rechnet erneut mit Tausenden nach einem zweiten Lockdown. Gastwirt Borowicz hätte es vorgezogen, wenn nur bestimmte Gegenden mit hohen Infektionsraten gesperrt worden wären. „Stattdessen wird nun ein ganzes Land in den Lockdown geschickt.“Er legt die Plastikschüssel mit Salat in eine Tüte und reicht sie rüber: „Nimm ihn mit, der ist übrig.“
Netanjahu nimmt nach Ansicht der Liberalen zu viel Rücksicht auf die Orthodoxen