Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Melodie steckt in der Landschaft
In Lenggries im Tölzer Land kann man mit Norbert Zandt das Jodeln beim Wandern lernen.
Die Morgenluft am Rande von Lenggries reicht schon nach Wald. Ein leichter Wind, am Boden kaum zu spüren, bewegt die Tannenwipfel. Meisen hüpfen durch die Zweige. Sicher freuen sich die Vögel ebenso wie wir auf diesen Tag im wunderschönen Isarwinkel. Doch während sie schon wissen, was sie singen, sind wir noch auf der Suche nach den Tönen.
Der Mann, der beim Finden dieser Töne helfen will, erwartet uns mit Wanderstab und Rucksack am Hirschbachstüberl (wo man übrigens fantastisch vegan und vegetarisch essen kann). Er heißt Norbert Zandt und trägt ein zitronengelbes T-shirt mit der Aufschrift „OU Jodelbüro“(ou ist eine Jodelsilbe). Der sportliche Typ mit weißen Haaren begrüßt uns freundlich und sagt: „Dann können wir ja starten!“In die frohe Aufbruchstimmung mischt sich so etwas wie Aufgeregtheit vor dem neuen Schulfach. Denn bei dieser Wanderung soll man tatsächlich etwas lernen. Norbert hat den Ehrgeiz, seinen Teilnehmern das Jodeln beizubringen.
Er selbst ist zwar als Bayer damit groß geworden. Doch ganz aktiv pflegt der heute 61-Jährige die textlose Sangeskunst erst, seit er sie von dem Tiroler Musiker Markus Prieth gelernt hat. Das war vor sieben Jahren. Hauptberuflich in der Werbebranche tätig, zog er 2012 vom Starnberger See nach Lenggries im Tölzer Land – und blieb damit, wo er am liebsten ist: im Alpenvorland. „Ich hab die großen Berge lieber ganz im Blick als direkt eine Wand vor meiner Nase“, bekennt der Outdoor-enthusiast.
Nur ganz allmählich geht es aufwärts. Vorbei an der Dionysius-kapelle und Schloss Hohenburg mit dem Sankt-ursula-gymnasium, führt der Weg in Richtung Berge. In unseren Köpfen: ein wirres Stimmen-potpourri. Wir hören innerlich die Stars der Volksmusik, doch auch die kläglichen Versuche von Frau Hoppenstedt: „Holleri du dödl di, diri diri dudl dö…“– aus der Jodelschule à la Loriot, anno 1978.
Noch ein paar schmucke Bauernhäuser, bis unters Dach garniert mit Blumenkästen, dann wechseln sich nur Wald und Almen ab. Den Geierstein im Osten lassen wir links liegen und biegen ab gen Süden, das 1601 Meter hohe Seekarkreuz im Visier. Bienen summen. Ein schmaler Quellbach plätschert direkt neben uns. Es riecht nach Tanne, Heu und Kräutern.
So lieblich uns die voralpine Landschaft auch umgarnt und sicher animieren will, vor lauter Freude loszujodeln – was im Halse steckt, fühlt sich mehr nach einem großen Kloß an. „Zeit für einen Jodler!“, findet unser Begleiter und setzt seinen Rucksack ab. Unter einem Baum am Wegesrand soll es passieren.
„Da Erschte“, kündigt Norbert an. Dass sich uns in dem Moment zwei Wanderinnen nähern, stört ihn nicht die Bohne. Ganz im Gegenteil. Während wir mit Scham und Überwindung kämpfen, lässt er sein gut trainiertes Gaumensegel bereits flattern. Die unbe
kannten Damen sind vom Jodeln entzückt.
„Jo – i – jo, dijo – i – jo…“, wiederholt der Jodellehrer langsam singend, mantraartig. Bei jeder Silbenzeile wird die Stimme etwas höher. Nach dem dritten Mal fällt sie mit „… ho – la – ro“nach unten. Und los geht es von vorn. Norbert winkt uns zu. Den zuhörenden Wanderinnen wird es nun zu interaktiv. Schnell suchen sie
das Weite. Da war der Einsatz! Wir haben ihn verpasst. Denn ausgerechnet jetzt drängt sich Frau Hoppenstedt mit ihrem Dudldö in unseren Sinn. Um vor Lachen nicht laut loszuprusten, beißen wir uns auf die Lippen und denken schnell an etwas Ernstes.
Wie zum Beispiel an die Geschichte des Jodelns. „Erfunden“wurde das nämlich schon vor Jahrtausenden, um sich über größere Distanzen in der Natur zu verständigen. Verwandtetechniken des melodiösen Rufgesanges gab und gibt es auf der ganzen Welt – in der Arktis ebenso wie in der Südsee, im tiefsten Afrika wie auch im Wilden Westen. In Europa ist das Jodeln hauptsächlich im Alpenraum sowie im Harz, im Erzgebirge und in Thüringen beheimatet, wird aber auch in Skandinavien und den Karpaten praktiziert.
Auf die Unterhaltungsbühnen großer Städte schaffte es die sehr spezielle Stimmkunst schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Berlin, heute als eine der mitgliederstärksten Jodler-gemeinden zugleich oft Gastgeber von Jodelfesten, trug tatsächlich maßgeblich zur Ausprägung der Jodelkultur bei. Doch längst geht es dabei nicht allein um Spaß und Volksbelustigung.
In Norberts Leben hat das Jodeln einen festen Platz. „Als Ausdrucksmittel für Gefühle ist es beinahe universell. Das gilt für Glück und Freude ebenso wie für Traurigkeit und Wut“, ist seine Erfahrung. Für ihn gehöre es zum Alltag – ob in Gesellschaft oder als ganz allein beim Wandern, ob bei einer Hochzeit oder einer Beerdigung. An die 120 Jodler umfasst sein Repertoire.
Im weiten Bogen schweift unser Blick über die zauberhafte Szenerie, gekrönt von den Gipfeln des Karwendelund des fernen Wettersteingebirges. Endlich haben wir’s: Die Melodie steckt in der Landschaft! Norbert jodelt „Ho – e – i, ho – e – i…“– und wir stimmen ein, denn jetzt können wir die Töne sehen.
Von ganz unten auf der Blumenwiese schlendern sie – vorbei an strammen, braun und weiß gescheckten Kühen – die ganze Alm hinauf. Bei „diriti – ri – o“, wenn die Brust- in die Falsettstimme wechselt, nehmen sie das letzte Stück mit kessem Schwung, hopsen hoch und in den Wald hinein.
Noch einmal und noch einmal lassen wir sie springen. Im Übermut gibt’s einen kleinen Unfall mit der zweiten Stimme. Egal – und weiter! Es macht so viel Spaß. Oh Mann, sind wir das, die hier jodeln? Wir können es gar nicht glauben. Norbert freut sich mit. Sicher denkt er: „Wieder einer mehr!“Und da hat er wirklich recht.
Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von der Touristinformation Lenggries.