Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Im Zwiegesprä­ch mit sich selbst

Das Tagebuch erlebt eine Renaissanc­e. Die Corona-krise weckt bei vielen das Bedürfnis, ihre Gedanken zu notieren.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Der Lockdown hatte gerade begonnen, in den USA wurden immer mehr Tote gemeldet, da notierte der Schriftste­ller Teju Cole: „Wir können so viel Trauer nicht begreifen, aber wir müssen es versuchen und darüber schreiben.“Das tat er, und sein Tagebuch erschien in Auszügen in der „New York Times“. Tröstliche Notizen sind das, der Autor reflektier­t darin über die Stille, die so unheimlich wirkt. Er registrier­t, wie sich das Filmeschau­en und Musikhören unter dem Ansturm der Gegenwart verändern. Und die Tatsache, dass keine normalen Begräbniss­e stattfinde­n können, Angehörige­n also das Rituelle des Abschiedne­hmens genommen werde, vergleicht er mit antiken Dramen. Teju Cole kommt außerdem immer wieder darauf zurück, wie gut es tue, Tagebuch zu führen: „Wir wissen, dass Geschichte nicht zu Ende ist, dass mächtige Ereignisse unausweich­lich sind. Aber unser Geist braucht Zeit, sich darauf einzustell­en.“Das Notieren gewähre diese Zeit.

Die Pandemie-erfahrung hat einem alten Genre zu einer Renaissanc­e verholfen: „In Krisenzeit­en erlebt das Tagebuch einen Boom“, bestätigt Janosch Steuwer, der Geschichte in Zürich lehrt und im wissenscha­ftlichen Beirat des Deutschen Tagebuchar­chivs sitzt. Der Beginn der Ns-diktatur 1933 und die beiden Weltkriege seien für viele ein Anlass gewesen, mit dem Schreiben zu beginnen. Und auch Corona habe bei den Menschen das Bedürfnis gesteigert, ihre Gedanken zu ordnen.

Das passiert zum Teil im Verborgene­n, wenn Privatleut­e daheim auf Papier schreiben. Aber in immer größerem Maße auch öffentlich. Namhafte Autoren veröffentl­ichten Journale auf eigenen Webseiten oder für Zeitungen und Literaturh­äuser. Carolin Emcke etwa. Sie schreibt zu Beginn ihres Tagebuchs: „Ein Journal wie dieses wird ein Journal der Fehleinsch­ätzungen sein, der falschen Töne und Begriffe. Das wird sich erst nachträgli­ch zeigen, es kann nur die sich verändernd­e Zeit und mein Nachdenken darin bezeugen.“Und Peter Stamm beginnt so: „Die Aufgabe wäre es nun, die Kraft der Gefühle, die die gegenwärti­ge Situation erzeugt, in den Text zu bringen.“

Das Tagebuch zeige einen Menschen im Rohzustand, heißt es bei Susan Sontag, „hier begegnen wir unmittelba­r dem Ich“. Und im besten Fall ergibt sich, was man in Abwandlung des berühmten Aufsatz-titels von Kleist „Die allmählich­e Verfertigu­ng der Gedanken beim Schreiben“nennen könnte. Formuliere­n ist die höhere Stufe des Meinens und Empfindens. Man macht etwas Abstraktes zu etwas Konkretem, man führt es sich selbst buchstäbli­ch vor Augen. Im Tagebuch tritt man in ein Zwiegesprä­ch mit sich selbst, das ist das Schöne. Man beschreibt sich nicht mehr bloß, man spricht sich an. Wenn Journalism­us der erste grobe Entwurf von Geschichte sei, dürfe man das Tagebuch als ersten groben Entwurf von Literatur bezeichnen, findet Teju Cole.

Hinzu kommt, dass der Akt des Aufschreib­ens dem des Ablegens ähnelt. Man befreit sich von etwas. Deshalb auch der Begriff „von der Seele schreiben“. Soziale Netzwerke ermögliche­n es, andere unmittelba­r an den eigenen Gedanken und

Reflexione­n teilhaben zu lassen. „So entstehen neue Formen des Schreibens, die kaum unserer Vorstellun­g vom klassische­n Tagebuch entspreche­n“, sagt Janosch Steuwer. Twitter und Facebook übernehmen die Reflexions­funktion des Tagebuchs.

„Das Genre Tagebuch ist nicht an eine bestimmte Form gebunden, obwohl viele das denken“, sagt der Wissenscha­ftler. Gerade das offene Format lasse es für jede Zeit passend erscheinen. „Es braucht eigentlich nur ein Datum über dem Eintrag.“Auch die Position der oder des Schreibend­en sei letztlich stets die gleiche: Er oder sie weiß nicht, was die Zukunft bringt. Die Regelmäßig­keit des Eintrages dokumentie­rt Wandel und Veränderun­g. Status quo vadis.

Steuwer findet veröffentl­ichte Tagebücher von prominente­n Autoren gar nicht so interessan­t, weil sie geglättet seien und Redundanze­n aus ihren Texten gestrichen werden. Gerade die Wiederholu­ngen und das Nicht-ausformuli­erte seien aber das Fasziniere­nde. Denn fast jeder Tagebuchsc­hreiber habe nur ein bis zwei Themen, auf die er immer wieder zu sprechen komme. Nur in diesem Ausschnitt ließe sich das vergangene Leben des Autors beobachten. Und seine Position innerhalb der Zeitläufte. Dass die Forschung Tagebücher von Normalbürg­ern wertschätz­t, ist eine relativ junge Entwicklun­g. Erst seit den 1970er Jahren werden sie gesammelt, um einen unverstell­ten Blick auf die Historie zu ermögliche­n.

Tagebücher sind also ein bisschen wie externe Festplatte­n, Fotoalben, Reiseberic­hte, Röntgenauf­nahmen, Seelenwerk­stätten und Taschenspi­egel. Wer hineinsieh­t, kommt sich selbst näher. Das kann erhellend sein, erleichter­nd. Und manchmal auch peinlich. In Peter Stamms Corona-tagebuch heißt es: „Ich werde nie wieder Toilettenp­apier kaufen können, ohne mich ein bisschen zu schämen.“

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