Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Im Zwiegespräch mit sich selbst
Das Tagebuch erlebt eine Renaissance. Die Corona-krise weckt bei vielen das Bedürfnis, ihre Gedanken zu notieren.
DÜSSELDORF Der Lockdown hatte gerade begonnen, in den USA wurden immer mehr Tote gemeldet, da notierte der Schriftsteller Teju Cole: „Wir können so viel Trauer nicht begreifen, aber wir müssen es versuchen und darüber schreiben.“Das tat er, und sein Tagebuch erschien in Auszügen in der „New York Times“. Tröstliche Notizen sind das, der Autor reflektiert darin über die Stille, die so unheimlich wirkt. Er registriert, wie sich das Filmeschauen und Musikhören unter dem Ansturm der Gegenwart verändern. Und die Tatsache, dass keine normalen Begräbnisse stattfinden können, Angehörigen also das Rituelle des Abschiednehmens genommen werde, vergleicht er mit antiken Dramen. Teju Cole kommt außerdem immer wieder darauf zurück, wie gut es tue, Tagebuch zu führen: „Wir wissen, dass Geschichte nicht zu Ende ist, dass mächtige Ereignisse unausweichlich sind. Aber unser Geist braucht Zeit, sich darauf einzustellen.“Das Notieren gewähre diese Zeit.
Die Pandemie-erfahrung hat einem alten Genre zu einer Renaissance verholfen: „In Krisenzeiten erlebt das Tagebuch einen Boom“, bestätigt Janosch Steuwer, der Geschichte in Zürich lehrt und im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Tagebucharchivs sitzt. Der Beginn der Ns-diktatur 1933 und die beiden Weltkriege seien für viele ein Anlass gewesen, mit dem Schreiben zu beginnen. Und auch Corona habe bei den Menschen das Bedürfnis gesteigert, ihre Gedanken zu ordnen.
Das passiert zum Teil im Verborgenen, wenn Privatleute daheim auf Papier schreiben. Aber in immer größerem Maße auch öffentlich. Namhafte Autoren veröffentlichten Journale auf eigenen Webseiten oder für Zeitungen und Literaturhäuser. Carolin Emcke etwa. Sie schreibt zu Beginn ihres Tagebuchs: „Ein Journal wie dieses wird ein Journal der Fehleinschätzungen sein, der falschen Töne und Begriffe. Das wird sich erst nachträglich zeigen, es kann nur die sich verändernde Zeit und mein Nachdenken darin bezeugen.“Und Peter Stamm beginnt so: „Die Aufgabe wäre es nun, die Kraft der Gefühle, die die gegenwärtige Situation erzeugt, in den Text zu bringen.“
Das Tagebuch zeige einen Menschen im Rohzustand, heißt es bei Susan Sontag, „hier begegnen wir unmittelbar dem Ich“. Und im besten Fall ergibt sich, was man in Abwandlung des berühmten Aufsatz-titels von Kleist „Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“nennen könnte. Formulieren ist die höhere Stufe des Meinens und Empfindens. Man macht etwas Abstraktes zu etwas Konkretem, man führt es sich selbst buchstäblich vor Augen. Im Tagebuch tritt man in ein Zwiegespräch mit sich selbst, das ist das Schöne. Man beschreibt sich nicht mehr bloß, man spricht sich an. Wenn Journalismus der erste grobe Entwurf von Geschichte sei, dürfe man das Tagebuch als ersten groben Entwurf von Literatur bezeichnen, findet Teju Cole.
Hinzu kommt, dass der Akt des Aufschreibens dem des Ablegens ähnelt. Man befreit sich von etwas. Deshalb auch der Begriff „von der Seele schreiben“. Soziale Netzwerke ermöglichen es, andere unmittelbar an den eigenen Gedanken und
Reflexionen teilhaben zu lassen. „So entstehen neue Formen des Schreibens, die kaum unserer Vorstellung vom klassischen Tagebuch entsprechen“, sagt Janosch Steuwer. Twitter und Facebook übernehmen die Reflexionsfunktion des Tagebuchs.
„Das Genre Tagebuch ist nicht an eine bestimmte Form gebunden, obwohl viele das denken“, sagt der Wissenschaftler. Gerade das offene Format lasse es für jede Zeit passend erscheinen. „Es braucht eigentlich nur ein Datum über dem Eintrag.“Auch die Position der oder des Schreibenden sei letztlich stets die gleiche: Er oder sie weiß nicht, was die Zukunft bringt. Die Regelmäßigkeit des Eintrages dokumentiert Wandel und Veränderung. Status quo vadis.
Steuwer findet veröffentlichte Tagebücher von prominenten Autoren gar nicht so interessant, weil sie geglättet seien und Redundanzen aus ihren Texten gestrichen werden. Gerade die Wiederholungen und das Nicht-ausformulierte seien aber das Faszinierende. Denn fast jeder Tagebuchschreiber habe nur ein bis zwei Themen, auf die er immer wieder zu sprechen komme. Nur in diesem Ausschnitt ließe sich das vergangene Leben des Autors beobachten. Und seine Position innerhalb der Zeitläufte. Dass die Forschung Tagebücher von Normalbürgern wertschätzt, ist eine relativ junge Entwicklung. Erst seit den 1970er Jahren werden sie gesammelt, um einen unverstellten Blick auf die Historie zu ermöglichen.
Tagebücher sind also ein bisschen wie externe Festplatten, Fotoalben, Reiseberichte, Röntgenaufnahmen, Seelenwerkstätten und Taschenspiegel. Wer hineinsieht, kommt sich selbst näher. Das kann erhellend sein, erleichternd. Und manchmal auch peinlich. In Peter Stamms Corona-tagebuch heißt es: „Ich werde nie wieder Toilettenpapier kaufen können, ohne mich ein bisschen zu schämen.“