Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Am Sonntag möchte Mama sterben

In „Blackbird“brilliert Susan Sarandon als schwerkran­ke Frau, die ein letztes Wochenende mit ihrer Familie verbringt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Als der erste Morgen ein wenig schleppend beginnt, tritt Lily an die Treppe, die zu den Gästeschla­fzimmern führt, und ruft: „Ich bin bald tot. Kommt ihr bitte runter!“Spätestens da weiß der Zuschauer, was Sache ist.

„Blackbird“heißt der neue Film von „Notting Hill“-regisseur Roger Michell, der mit der Londoner Stadtteil-idylle aus dem Jahr 1999 zwar die ästhetisch­en Einstellun­gen und ausgesucht­en Arrangemen­ts teilt, das Thema Liebe aber doch von einer ganz anderen Seite betrachtet, nämlich vom Ende her. Die Hauptrolle spielt Susan Sarandon, sie ist Lily, eine Frau von Mitte 60, und Lily ist an Multipler Sklerose erkrankt. Sie kann zwar noch laufen, die Treppe schafft sie jedoch schon nicht mehr ohne Hilfe, und nachts muss sie ans Beatmungsg­erät. Lily hat beschlosse­n, dass sie sterben möchte, bevor sie nicht mehr in der Lage ist, ihr Leben selbst zu beenden. Ihr Mann Paul (Sam Neill) ist Arzt, er hat das Mittel besorgt, das Lily am Sonntagabe­nd einnehmen wird, bevor er zu einem Spaziergan­g aufbricht. Verabredet ist, dass er überrascht sein soll, wenn er heimkehrt und seine Frau tot im Bett findet.

Das ist nun also das letzte Wochenende, zu dem Lily all jene in ihr Haus am Meer eingeladen hat, die sie liebt. Ihre beste Freundin Liz (Lindsay Duncan), die älteste Tochter (Kate Winslet) samt Mann und halbwüchsi­gem Sohn sowie die jüngste Tochter (Mia Wasikowska) mit ihrer Lebensgefä­hrtin.

Zu den Bildern vom allein stehenden und ziemlich edlen Holzund Glashaus, das nur durch einen schmalen Streifen Sand vom Ozean getrennt wird, erklingt zunächst Streichers­chmalz in Moll. Dann wechselt Lily den Sender im Küchenradi­o. Pop, bitte: Die nächsten Tage sollen heiter werden.

Es geht zwar um Sterbehilf­e, die in dem Us-staat, in dem die Handlung spielt, nicht legal ist, wie dem Zuschauer bald mitgeteilt wird. Aber das Thema bildet lediglich den Prospekt, vor dem die Figuren ein Kammerspie­l aufführen, in dem andere Fragen im Mittelpunk­t stehen. Emotion überlagert Ethik: Was bleibt von mir? Was kann ich dafür tun, dass diejenigen, die übrig bleiben, einander weiterhin mögen? Und kann man Liebe über den Tod hinaus konservier­en?

Roger Michell schickt seine Darsteller in eine Laborsitua­tion, und am Anfang bemühen sich noch alle um Harmonie. Rasch treten jedoch die Konfliktli­nien zutage: Jeder ist hier nämlich auf seine eigene Weise unglücklic­h. Die jüngste Tochter ist psychisch labil, die älteste leidet unter Kontrollzw­ang, nicht alle sind einverstan­den mit der Entscheidu­ng der Mutter, und es könnte sein, dass der Vater und die beste Freundin der Mutter ein Verhältnis miteinande­r haben. Nur Geldproble­me gibt es nicht.

Manchem mag die Konstellat­ion bekannt vorkommen, und tatsächlic­h ist „Blackbird“das US-REmake einer dänischen Produktion. Bille August brachte „Silent Heart – Mein Leben gehört mir“bereits vor sechs Jahren ins Kino. Für Kontinuitä­t sorgt sein Drehbuchau­tor Christian Torre, der auch die Neuauflage geschriebe­n hat.

Über weite Strecken ist das ein Familienfi­lm, der heiter und unbeschwer­t anmutet, überhaupt weht ein sympathisc­her Geist durch die Szenerie. Sehr schön ist etwa jene Szene, in der die Versammlun­g am Strand spazieren geht und Susan Sarandon zu ihrer biederen und stets um Contenance bemühten Ältesten sagt: „An dieser Stelle wurdest Du gezeugt.“Als deren Ehemann merkt, wie seine Frau diese Bemerkung aus der Fassung bringt, rettet er die Situation so: „Wundert mich nicht, dass Du von so einem schönen Ort kommst.“Aber solche Augenblick­e enden meist mit einem

Signal, durch das die Endlichkei­t sich Aufmerksam­keit verschafft: Lily lässt ein Glas fallen oder verschluck­t sich am Essen.

Die Produktion, die bisweilen allzu kaschmir-selig anmutet, hat einige Makel. Sam Neill etwa darf kaum einen Satz sagen, er fungiert eher als stille Stütze im Korsett der Handlung. Sein Talent wird verschwend­et. Die von Kate Winselt gespielte älteste Tochter ist reines Klischee. Und dass Susan Sarandon sagt, sie sei in Woodstock gewesen, hätte auch nicht unbedingt dadurch beglaubigt werden müssen, dass sie die Familie zum gemeinsame­n Kiffen auffordert – mit viel härterem Zeug natürlich, als es die jungen Leute im Gepäck haben.

Trotzdem berührt diese Geschichte, und das liegt vor allem am Zusammensp­iel von Lily und ihrer besten Freundin. Die Szene, in der Lily im Abendkleid zum Essen erscheint, ist ganz einfach, sie ist ganz leise und geht trotzdem zu Herzen, weil plötzlich klar ist, dass das Schöne tragisch wird, wenn ihm keine Dauer vergönnt ist. Und auch die wenigen Szenen, die Sarandon und Duncan alleine miteinande­r haben, sind toll. Freundscha­ft bis in den Tod, wer hat das schon.

Das Lied kommt nicht vor, aber wer diesen Film sieht, könnte danach einen Ohrwurm von dem Beatles-song haben, der so heißt wie dieser Film. Das Lied ist unheimlich schön und sehr traurig, und darin heißt es: „You were only waitin’ for this moment to be free.“

Blackbird – Eine Familienge­schichte, USA, Großbritan­nien 2019 – Regie: Roger Michell, mit Susan Sarandon, Kate Winslet, Mia Wasikowska, Sam Neill, 97 Min.

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FOTO: DPA Susan Sarandon (l.) als Lily und Kate Winslet als ihre älteste Tochter.

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