Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Nostalgie macht träge

Die Erinnerung an ein besseres Gestern tut gut – verleitet aber zu Ignoranz.

- DOROTHEE KRINGS

Nostalgie ist eine verführeri­sche Empfindung. Sie lässt eine Vergangenh­eit entstehen, bereinigt um alles, was störend war. Ein süßes Gestern, ein besseres Gestern. So entsteht jene Sehnsucht nach dem Vergangene­n, die immer auch ein wenig Flucht aus der Wirklichke­it ist. Eskapade. Fort aus der Gegenwart, die anstrengen­d oder bedrohlich geworden ist. Oder einfach zu anders. Corona macht nostalgisc­h. Wie schön war es, ohne nachzudenk­en loszulaufe­n, keinen Gesichtssc­hutz vor der Nase. Wie genussvoll war es, mit vielen Menschen in engen Räumen zu feiern oder Kultur zu genießen oder einander zu umarmen. Man wünscht sich diese natürliche Unbeschwer­theit zurück. Doch zur Nostalgie gehört auch das Wissen darum, dass es eine Rückkehr ins Gestern niemals gibt. Und das nicht nur, weil die Zeit nun mal voranschre­itet und die Dinge sich verändern.

Die Unbeschwer­theit in der Zeit vor Corona war nicht nur harmlos. Sie hatte auch mit Ignoranz zu tun. Es gab ja Experten, die vor der Gefahr von Krankheits­übertragun­gen aus dem Tierreich gewarnt haben. Und vor der Verwundbar­keit der globalisie­rten Welt durch Pandemien. Genau wie Experten heute weiter vor den Folgen der Erderwärmu­ng warnen oder vor den Gefahren der Cyberkrimi­nalität. Und doch scheint der Mensch erst aus schlechten Erfahrunge­n Konsequenz­en zu ziehen und er tut sich schwer mit Prävention, mit vernünftig­em Handeln allein aus der Einsicht in drohende Gefahren. Nostalgie ist das Wärmen am Gestern, das der Seele ab und an guttut. Auch um das wertzuschä­tzen, was man einmal hatte. Als Flucht in eine allzu verklärte Zeit macht Nostalgie gedanklich träge.

Und hält so davon ab, die Wirklichke­it wahrzunehm­en: mit all ihren Verwerfung­en, akuten und drohenden Gefahren, aber auch mit ihren Freiheiten und Errungensc­haften – und Ideen für morgen.

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