Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Nostalgie macht träge
Die Erinnerung an ein besseres Gestern tut gut – verleitet aber zu Ignoranz.
Nostalgie ist eine verführerische Empfindung. Sie lässt eine Vergangenheit entstehen, bereinigt um alles, was störend war. Ein süßes Gestern, ein besseres Gestern. So entsteht jene Sehnsucht nach dem Vergangenen, die immer auch ein wenig Flucht aus der Wirklichkeit ist. Eskapade. Fort aus der Gegenwart, die anstrengend oder bedrohlich geworden ist. Oder einfach zu anders. Corona macht nostalgisch. Wie schön war es, ohne nachzudenken loszulaufen, keinen Gesichtsschutz vor der Nase. Wie genussvoll war es, mit vielen Menschen in engen Räumen zu feiern oder Kultur zu genießen oder einander zu umarmen. Man wünscht sich diese natürliche Unbeschwertheit zurück. Doch zur Nostalgie gehört auch das Wissen darum, dass es eine Rückkehr ins Gestern niemals gibt. Und das nicht nur, weil die Zeit nun mal voranschreitet und die Dinge sich verändern.
Die Unbeschwertheit in der Zeit vor Corona war nicht nur harmlos. Sie hatte auch mit Ignoranz zu tun. Es gab ja Experten, die vor der Gefahr von Krankheitsübertragungen aus dem Tierreich gewarnt haben. Und vor der Verwundbarkeit der globalisierten Welt durch Pandemien. Genau wie Experten heute weiter vor den Folgen der Erderwärmung warnen oder vor den Gefahren der Cyberkriminalität. Und doch scheint der Mensch erst aus schlechten Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen und er tut sich schwer mit Prävention, mit vernünftigem Handeln allein aus der Einsicht in drohende Gefahren. Nostalgie ist das Wärmen am Gestern, das der Seele ab und an guttut. Auch um das wertzuschätzen, was man einmal hatte. Als Flucht in eine allzu verklärte Zeit macht Nostalgie gedanklich träge.
Und hält so davon ab, die Wirklichkeit wahrzunehmen: mit all ihren Verwerfungen, akuten und drohenden Gefahren, aber auch mit ihren Freiheiten und Errungenschaften – und Ideen für morgen.