Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Corona-folgen könnten wirken wie ein Krieg
Die Pandemie erzeugt Ängste, Traumata und lebenslange Gesundheitsschäden. Eine ganze Generation dürfte diese Zeit nie vergessen.
BERLIN So weit wie Frankreichs Präsident ist Angela Merkel nicht gegangen. „Wir sind im Krieg“, hatte Emmanuel Macron zu Beginn der Corona-pandemie gesagt. Wenig später sprach Merkel zurückhaltender, aber denkwürdig in einer Fernsehansprache von „der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“. Nichts habe seither so sehr gemeinsames solidarisches Handeln erfordert wie dieses Virus. Ein halbes Jahr ist seither vergangen. Die Frage ist: Wenn Corona nicht als Krieg zu verstehen ist – hat das Virus denn kriegsähnliche Auswirkungen?
Merkels CDU ist in den Umfragen in den vergangenen Monaten deutlich nach oben gestiegen, was zu einem guten Teil mit dem Handeln der Bundeskanzlerin in Verbindung gebracht wird. Aber sie kann bei der Bekämpfung dieser Krankheit schon länger nicht mehr so vorangehen wie im Frühjahr. Denn die Ministerpräsidenten gehen lieber in Eigenregie und punktuell vor. So fehlt zunehmend eine bundesweit einheitliche Stimme. So wie Merkel sie anfangs erhoben – und damit Stabilität und Vertrauen in die Regierung bewirkt hat.
Es war im März ihre erste TV-ANsprache an die Nation überhaupt. Womöglich könnte eine zweite Rede im Fernsehen mit einer Zwischenbilanz vielen verunsicherten Bürger als Orientierung helfen. Wie kritisch sieht Merkel die Demonstrationen gegen die Corona-maßnahmen, in die sich Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremisten mischen? Was setzt sie bewussten Verstößen gegen die Masken- und Abstandspflicht entgegen? Kann sich Deutschland einen zweiten Shutdown finanziell leisten? Und eben: Wenn Corona die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg ist – wird die Pandemie Spuren wie ein Krieg hinterlassen?
Gemeint sind nicht zerbombte
Häuser und zerstörte Infrastruktur, sondern Ängste, Traumata, bleibende Gesundheitsschäden, Spaltung, Nationalismus, Rückschritte bei der Globalisierung. Der Spd-gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagt, die Metapher der kriegsähnlichen Auswirkungen dürfe nicht überstrapaziert werden. Sie stimme nur in Teilen. „Es wird unterschätzt, dass weltweit sehr viele Menschen sehr lange, auch über Jahrzehnte unter den Corona-folgen leiden werden. Es wird eine Generation geben, die sich ein Leben lang an Corona erinnern wird“, sagt er unserer Redaktion. Bei schweren Verläufen litten die Menschen dauerhaft unter Lungenschäden, Herzkomplikationen, Nierenschwäche und chronischer Erschöpfung. Lauterbach sieht die Zukunft aber nicht so düster wie einige Koalitionspartner. Er befürchtet keine internationale Abschottung. Zumindest was die Medizin betreffe, werde der „Internationalismus profitieren“. Die Zusammenarbeit bei der Forschung werde eher besser werden als schlechter.
Kritischer sieht es die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentinmalu Dreyer (SPD). Sie sagt unserer Redaktion: „Die Pandemie trifft alle, aber nicht alle gleich hart. Am
Beispiel des Wettlaufs um Impfstoff sehen wir, dass es keine gute Entwicklung ist.“Sie plädiert für eine „europäische Strategie“.
In Teilen der Union wird befürchtet, dass sich etwa der Konflikt zwischen den USA und China, von wo aus die Pandemie um die Welt ging, verschärfen wird, das internationale Kräfteverhältnis könne sich verschieben, Berufe würden über lange Zeit brachliegen. Künstler, Messebauer hätten es schwer, der Autoindustrie stehe eine harte Zeit bevor. Schulen, Kindergärten und damit Familien, Lehrer und Erzieher würden noch für eine lange Zeit mit Ausnahmesituationen konfrontiert werden. Es werde dauern, bis sich die Wirtschaft erhole. Da mute es absurd an, dass in Deutschland wochenlang Debatten darüber geführt würden, ob die Bürger in riskante Urlaubsländer fahren, zu Zehntausenden ins Fußballstadion oder zu Hunderten private Feiern veranstalten könnten. Einen zweiten Lockdown könne das Land nicht verkraften.
Am nächsten Dienstag treffen sich die Ministerpräsidenten wieder mit Merkel, um Strategien abzustimmen. Dreyer fordert jetzt eine bundesweit einheitliche Teststrate
gie: „Wir brauchen erstens jetzt ganz schnell eine verbindliche Teststrategie von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Und zweitens brauchen wir Warn-systeme in ganz Deutschland.“In Rheinland-pfalz werde zusammen mit den Kommunen ein Stufen-warn-system eingeführt. „Ab einer bestimmten Fallzahl der Infektionen wird die Bevölkerung informiert, denn ohne deren Mitwirkung geht nichts.“Eine Taskforce entscheide dann, wie die Infektionskette am effektivsten unterbrochen werden kann. So wollen wir verhindern, dass im ganzen Land Schutzmaßnahmen erhöht werden müssen.“Dreyer versichert: „Wir setzen alles daran, einen zweiten Lockdown zu verhindern.“Lauterbach vergleicht die Corona-krise mit der Finanzmarktkrise: „Wir werden sie im bestehenden System überwinden.“Und das sei eine „relative Kleinigkeit“im Vergleich zur Klimakrise. „Der Klimawandel wird das ganze System verändern.“Das habe monströsere Auswirkungen auf das Leben, die Wirtschaft und die Welt als Corona.