Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Hito Steyerl spielt mit der visuellen Nervosität des Internets
In der Kunstsammlung NRW ist das Werk der gebürtigen Bayerin laut und bildgewaltig ausgebreitet. Fast acht Stunden braucht man für den ersten Blick.
DÜSSELDORFHITO Steyerl gilt als einflussreiche Künstlerpersönlichkeit. Das Londoner Kunstmagazin „Art review“hat sie 2017 in seinem internationalen Ranking auf Platz eins gesetzt. Die Documenta und die Biennale von Venedig haben sie in den Adelsstand gehoben. Doch weil sie eine Frau, „ziemlich links und nicht weiß ist“, wie sie angibt, erhält sie in den sozialen Medien Todesdrohungen. Die Deutsch-japanerin, Jahrgang 1966, in Bayern geboren, von Hause aus Dokumentarfilmerin und Professorin in Berlin, sagt: Es ist mir peinlich, wenn ich nicht auf der Todesliste der NSU 2.0 stehe. Und: Der gemeine Nazi kapiert nicht, dass ich sein Feind bin.
Jetzt wird die radikale Analystin und politisierte Dokumentaristin, die sich für die Welt, in der wir leben, interessiert, in Düsseldorf und Paris groß gefeiert; die Bundeskunststiftung hat rund eine halbe Million dazu gegeben. Trotz coronabedingter Schwierigkeiten eröffnet am 26. September iim Ständehaus K 21 die erste große Ausstellung in Deutschland unter dem förmlich herausgebrüllten Titel „I will survive“.
Es ist keine gewöhnliche Ausstellung, sondern eine absolut außergewöhnliche. Das liegt an ihrer den Menschen in Bildermasse, Tempo und Maximal-sound fast überfordernden Reihung von Installationen und Filmen. Es wird in Steyers filmischen Essays vieles vorgeführt und drastisch berichtet, meist in verschlüsselter Form; von den Krisen der Welt in Politik, Kunstmarkt, Mode und Massenkommunikation. Hochaufgelöste Bilder aus künstlich-fernen Welten rasen über die Darbietungsflächen, die auf allerhöchstem Technikstand sind. Sie werden mitunter gemixt mit Analogem – die animierten Blütenszenarien gespickt mit Aussagesätzen. In dem ganz frischen, für Düsseldorf geschaffenen Ein-kanal-video „Socialsim“setzt sich Steyerl mit der kollektiven Hysterie in den sozialen Netzwerken auseinander. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Das fragt man sich ja schon lange, und man kann auf dem spiegelnden, scheinbar wankenden Boden verfolgen, wie Bild und Abbild an der Unterkante ineinanderfließen. Zum Glück taucht leibhaftig „Tatort“Kommissar Karow (Mark Waschke) aus Berlin in diesem Weltuntergangsszenario auf, der erzählt, wie es ihm geht, da er sich pandemiebedingt in Kurzarbeit befindet.
Fast acht Stunden müsste man im Ständehaus zubringen, um 17 Arbeiten aus den vergangenen 25 Jahren in Augenschein zu nehmen. Manche dauern mehr als 60 Minuten, die kürzeste läuft 28 Sekunden. Man braucht zusätzlich viel Zeit, will man die oberste Wahrnehmungsschicht durchdringen, zum Kern stoßen, um darin Entdeckungen zu machen, zu verstehen. Hito Steyerls komplexe Kunst funktioniert nicht auf den ersten Blick.
Sie malt und zeichnet nicht, haut keine Skulpturen. Vielmehr verwebt sie diese alten Meistertechniken in einem digitalen Raum der scheinbar unendlichen Dimensionalität. Rundumbilder plus Rundumsound – bewegte Klicks, aneinander-, übereinander- und nebeneinandergelegt, in dröhnende Beats eingebettet, auf Hochgeschwindigkeit gebracht und ständig aktualisiert. Die Welt ist (erneut) aus den Fugen. Der Mensch ist überfordert. Die Gesellschaft ebenso. Dieser Diagnose stimmt man gerne zu. Schuld ist die visuelle Nervosität des Internets. Auch die zunehmend digitalisierte Welt, ihre Mechanismen, Algorithmen und Zudringlichkeiten, das Massenmobbing, der Verrat, die Fernsteuerung von Menschen, die Simulation von Zukunft, die Entfremdung in einem Kommunikationsraum, in dem der asozialste und aggressivste Umgang belohnt wird. Hito Steyerl baut dazu brutale Bilder: ein Kraftwerk von großer Schönheit.
Info Bis 10. Januar 2021 im K21, Ständehausstraße 1, Düsseldorf: www.kunstsammlung.de