Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Gebeutelt durch die Krise
ANALYSE Steigende Arbeitslosigkeit, Umsatzausfälle und Pleiten – die Corona-pandemie setzt den Deutschen zu. Auch die Mittelschicht ist davon betroffen, sie zeigt sich aber erstaunlich stabil und krisenfest.
Corona ist mehr als ein Virus, das Menschen krank macht. Corona treibt auch die Wirtschaft in die Rezession und die Spaltung der Gesellschaft voran. Restaurants ohne Gäste, Künstler ohne Publikum, Piloten ohne Passagiere – die Bilder, die die wirtschaftlichen Folgen der Krise zeigen, sind bedrückend. Was macht das mit der Gesellschaft, und was macht das mit ihrer tragenden Schicht? Beschleunigt die Pandemie das „Ende der Mittelschicht“, wie es in Büchern seit Jahren prognostiziert wird?
Dazu muss man sich klar werden, was „die Mittelschicht“eigentlich ist. Eine verbindliche Definition gibt es in der Wissenschaft nicht. Man kann sie finanziell, soziokulturell oder anhand der Wertorientierung abgrenzen. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) definiert sie über das Einkommen, da es ein zentrales Statusmerkmal darstelle, so Judith Niehues. Als Mittelschicht im engeren Sinne definiert die Iw-forscherin nun jene Haushalte, die zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens haben. Das Medianeinkommen ist das Einkommen, das die Bevölkerung in zwei gleiche Gruppen teilt: Die eine Hälfte hat ein höheres Einkommen, die andere ein geringeres. Dabei geht es um das Haushalts-nettoeinkommen nach Abzug der Einkommensteuer und Sozialbeiträge sowie zuzüglich möglicher Zahlungen von Renten und Wohn- oder Kindergeld.
Bei einem Alleinstehenden beträgt das monatliche Medianeinkommen 1946 Euro. Damit gehören zur Mittelschicht im engeren Sinn Singles, die netto zwischen 1560 und 2920 Euro im Monat haben. Bei einem Paar mit zwei Kindern beträgt das Medianeinkommen 4087 Euro. Damit zählen solche vierköpfigen Familien zur Mittelschicht im engeren Sinn, die zwischen 3270 und 6130 Euro netto im Monat haben. Als obere Mittelschicht definiert das IW
Familien mit 6130 bis 10.220 Euro. Was nun macht die Pandemie mit dieser Schicht? „Noch gibt es keine Daten, was man aber sagen kann: In der Vergangenheit hat sich die Mittelschicht in Deutschland als weitgehend stabil erwiesen, auch in der Finanzkrise 2009 zeigte sich ihre Widerstandsfähigkeit“, sagt Niehues. Und auch jetzt ist die Antwort vielschichtiger, als der Blick in eine leere Hotelhalle vermuten lässt.
Zum einen scheint die wirtschaftliche Rezession nicht ganz so dramatisch auszufallen, wie die Ökonomen im Frühjahr während des Lockdowns zunächst befürchtet hatten. Viele Institute erhöhen ihre Konjunkturprognose. Das Ifo in München etwa geht „nur“noch von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 5,2 Prozent aus und wagt die Prognose: So schlimm wie 2009 in der globalen Finanzkrise, als die deutsche Wirtschaft um 5,7 Prozent einbrach, wird es dieses Mal nicht. Dass der Aufschwung durch staatliche Milliarden-programme gekauft ist, die Pleitewelle nach Ende der gelockerten Regeln wieder rollen wird und wir frühestens Ende 2021 das Vorkrisenniveau wieder erreichen, gehört zur Wahrheit aber auch dazu. „Krisenresilienz made in Germany“betitelte die Deutsche Bank unlängst einen KonjunkturReport und macht darin das System der sozialen Sicherung (Kurzarbeitergeld statt Arbeitslosigkeit) und des staatlichen Gesundheitssystems für die Entwicklung verantwortlich.
Zum zweiten wirken sich die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf die verschiedenen Teile der Mittelschicht höchst unterschiedlich aus. Schwer getroffen sind zum Beispiel Selbstständige, die etwa als Messebauer, Reisebüro-inhaber oder im Eventbereich tätig sind. Hier sind die Umsätze oft komplett weggefallen, und irgendwann sind die Rücklagen aufgebraucht. NRW zahlt ihnen zwar einen Unternehmerlohn von 1000 Euro pro Monat als Soforthilfe. Doch damit ist man gemäß der Iw-definition schon keine Mittelschicht mehr, und eine Dauerlösung ist die Unterstützung auch nicht. Am Ende droht das Abrutschen in Hartz IV.
Aber auch unter abhängig Beschäftigten, die in Kurzarbeit sind, sind die Unterschiede groß. „Für Geringverdiener kann Kurzarbeit Armut bedeuten, für Facharbeiter aus gut bezahlten Branchen ist dies eher unwahrscheinlich“, betont Niehues. Wer finanzielle Rücklagen habe, könne die Krise leichter abfedern. Zudem können Geringverdiener wie Hilfskräfte in Gastronomie und Handel anders als Büroarbeiter nicht ins Homeoffice geschickt werden. Hier droht schneller Arbeitslosigkeit.
Von der Krise unbeeindruckt, jedenfalls in finanzieller Hinsicht, bleiben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Hier ist der Arbeitsplatz sicher, und es wird stets der volle Lohn gezahlt – auch wenn das Amt wochenlang im Lockdown war. Entsprechend unverantwortlich sind die frühen Warnstreiks im Tarifstreit für den öffentlichen Dienst. Auch die Folgen für Rentner sind überschaubar: Rentenkürzungen gibt es nicht und wird es laut Rentenformel auch nicht geben. Das Schlimmste, was Rentnern droht, ist eine Nullrunde im nächsten Jahr. Auch Berufsrenten werden in voller Höhe weiter gezahlt. „Der Staat unterstützt im Moment sehr stark. Womöglich kommt die Mittelschicht in Deutschland daher auch besser durch die Krise als in anderen Ländern“, erwartet Niehues. „Zur Mittelschicht gehören viele Familien, ihnen hilft etwa der Kinderbonus.“
Das größere Problem für die Gesellschaft ist ohnehin, wie die Pandemie Chancen zerstört. Kinder aus bildungsfernen Schichten sind durch den Lockdown zurückgeworfen, haben zu Hause womöglich weder technische noch pädagogische Unterstützung, was die Schule nicht aufholen kann. „Wenn Bildung nicht mehr in der Schule stattfindet, vergrößern sich die Nachteile der Kinder aus bildungsfernen Schichten“, warnt Niehues. Ifo-chef Clemens Fuest sagt es so: „Die Ungleichheit der Chancen wächst. Das ist eine besonders bittere Form der Ungleichheit.“
„Auch in der Finanzkrise 2009 zeigte sich ihre Widerstandsfähigkeit“Judith Niehues Iw-forscherin