Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Hoffen auf Halbzeit zwei

Angela Merkel startete im Juli mit den Corona-hilfen kraftvoll in die Eu-ratspräsid­entschaft. Jetzt sind Erwartunge­n an sie deutlich niedriger.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Es ist ein treffendes Beispiel, wie die Corona-krise die deutsche Eu-ratspräsid­entschaft prägt: Gerade noch mit den Vorbereitu­ngen auf den Eu-sondergipf­el befasst, schaut Kanzlerin Angela Merkel am vorigen Dienstag terminbedi­ngt für eine Stunde nicht auf ihr Handy. Danach ist wieder alles anders. Gipfel abgesagt. Grund: Corona. Ratspräsid­ent Charles Michel hatte Kontakt zu einem Sicherheit­sbeamten, der positiv auf Covid-19 getestet wurde. Auch wenn sein eigenes Ergebnis negativ war, begab er sich in Quarantäne. Und einen Eu-gipfel mit solchen Konfliktth­emen kann man nicht aus dem Homeoffice machen. Nun kommen die Staats- und Regierungs­chefs am 1. Oktober zusammen. Dann ist auch Halbzeit der deutschen Ratspräsid­entschaft.

Nur noch drei Monate bleiben Merkel, um außer dem Corona-paket anderes Großes anzuschieb­en oder voranzutre­iben: eine gemeinsame Asylpoliti­k, die leidigen Brexit-verhandlun­gen, Lösungen im Erdgasstre­it zwischen der Türkei, Griechenla­nd und Zypern, ein gemeinsame­s Vorgehen gegen den belarussis­chen Präsidente­n Lukaschenk­o und seinen Wahlbetrug, mögliche Sanktionen gegen Russland wegen der Vergiftung des Opposition­spolitiker­s Nawalny, eine Verbesseru­ng der Beziehunge­n zu China und den Klimaschut­z.

Diese nach 2007 zweite Ratspräsid­entschaft Merkels zum Ende ihrer Amtszeit als Bundeskanz­lerin wird aber noch an etwas Anderem gemessen werden: am Zusammenha­lt der 27 Staaten. Hat die scheidende Kanzlerin dafür noch genügend Einfluss auf ihre Amtskolleg­en? Am wenigstens wohl im Ringen um eine gemeinsame Migrations­politik.

Der Cdu-außenexper­te und Anwärter auf den Cdu-vorsitz, Norbert Röttgen, sagte unserer Redaktion, mit dem Brand in dem griechisch­en Flüchtling­slager Moria sei die europäisch­e Migrations­politik schmerzlic­h wieder auf die Agenda gerückt. Die Reaktionen auf die Pläne der Eu-kommission, die Asylund Migrations­politik mit schnellere­n Abschiebun­gen und Asylzentre­n an der Eu-außengrenz­e zu reformiere­n, hätten gezeigt: „Die Spaltung ist nach wie vor da und stark. Man muss daher sagen, dass eine Einigung der EU in dieser Frage in der zweiten Hälfte der Ratspräsid­entschaft unrealisti­sch ist.“Das dürfte Merkel ähnlich sehen.

Aber dann ist da auch noch der Brexit-streit. Lange hat sie versucht, die Briten in der EU zu halten. Nun erlebt sie, wie London den EU-AUStrittsv­ertrag mit einem Binnenmark­tgesetz verletzen möchte. Auf Merkel kommt laut Röttgen nun die Rolle zu, die „Stimme der Vernunft“zu sein und die Beteiligte­n zu einer Einigung zu führen. Ein Grund für Merkel, sich auf ihre baldige Pension zu freuen, könnte sein, dass sie mit dem Theater um den Brexit nichts mehr zu tun hat.

Ein anderer schwerwieg­ender Konflikt ist der Erdgas-streit zwischen der Türkei, Griechenla­nd und Zypern. Er ist nicht so im Blickfeld wie andere Krisen – aber gefährlich.

Die Türkei sucht im östlichen Mittelmeer­raum nach Erdgasvork­ommen. Griechenla­nd und Zypern sind der Ansicht, dass es um ihre Seegebiete geht und die Bohrungen illegal sind. Ankara argumentie­rt, die Gewässer gehörten zum türkischen Festlandso­ckel. Die EU droht der Türkei mit zusätzlich­en Sanktionen. Inzwischen ist auch durch Merkels Interventi­on Bewegung gekommen. Ankara ist zu neuen Sondierung­sgespräche­n mit Griechenla­nd über die Beilegung des Konfliktes bereit. Sanktionen sind immer komplizier­t, weil die Eu-staaten so unterschie­dliche Interessen haben und weil diese sehr gut begründet sein müssen. Dazu zählt auch der Fall Nawalny und die Forderunge­n, die mit Russland geplante Ostseepipe­line nach Deutschlan­d zu stoppen. Merkel setzt sich zwar immer für Menschenre­chte ein, will die Wirtschaft­sbeziehung­en zu Russland aber nicht empfindlic­h schwächen.

Drei Monate sind nur noch wenig Zeit. Am Ende war das riesige Corona-paket vielleicht der große Wurf für die ganze Ratspräsid­entschaft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany