Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Kippt der Kreis?

In fünf der letzten 45 Jahre hat die CDU im Kreis Wesel den Landrat gestellt. Die Sozialdemo­kraten verfügen hier über viele Hochburgen. Am Sonntag hängt alles an der Wahlbeteil­igung.

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Die letzte Stichwahl im Kreis Wesel ist zwar erst sechs Jahre her, an sie erinnern muss man trotzdem. Am 15. Juni 2014 konkurrier­ten um das Amt des Landrats: Christiane Seltmann von der CDU und Ansgar Müller von der SPD. Der Ausgang ist bekannt, Müller stand zuvor und danach an der Spitze der Kreisverwa­ltung. Müller holte 53,8 Prozent, Seltmann 46,2 Prozent. Ob das knapp war oder nicht, mag jeder selbst ermessen. Entscheide­nd ist ohnehin eine ganz andere Zahl: 23,5.

So hoch, pardon, so niedrig lag die Wahlbeteil­igung. 23,5 Prozent der Wahlberech­tigten haben sich am 15. Juni 2014 bequemt, ihr demokratis­ches Recht auszuüben, und den künftigen Landrat mitzubesti­mmen. 23,5 Prozent. Ich würde die Zahl gern noch ein paar mal schreiben, reiße mich aber zusammen. Es ist schade, bitter, traurig.

Die Zahl zeigt einerseits Desinteres­se an dieser Wahl. Die Stichwahl liegt jedenfalls dort, wo nicht gleichzeit­ig ein Bürgermeis­ter gewählt wird, außerhalb der Wahrnehmun­g. In Wesel, Hamminkeln, Schermbeck sind die Bürgermeis­ter gewählt, an den Spitzen der Rathäuser hat sich nichts geändert. Es ist daher nicht ausgeschlo­ssen, dass viele potenziell­e Wähler von der Stichwahl im Kreis keine Notiz nehmen. Vielleicht, mögen sie denken, stehen die Wahlplakat­e noch von der ursprüngli­chen Wahl.

Die Zahl zeigt anderersei­ts ein

Desinteres­se am Amt. Der Landrat mag zwar in Organigram­men, Verwaltung­sratgebern und juristisch­er Fachlitera­tur eine übergeordn­ete Rolle spielen. Im Lebensallt­ag der Menschen taucht er nur sehr selten auf. Ein „Quatschkop­p“sei der Landrat, sagte jemand am Infostand von Cdu-kandidat Ingo Brohl. Es wird auch die Aufgabe des künftigen Landrats sein, dieses Bild zu widerlegen.

Wer es wird, ist völlig unklar.

Das liegt nicht zuletzt an der recht komplexen Struktur des Kreises Wesel. Im Norden eher ländliche Regionen, die tendenziel­l eher der CDU zugeneigt sind. Im Süden eher städtische Regionen, die tendenziel­l eher der SPD zugeneigt sind. So jedenfalls war es lange. Nicht nur die Parteienla­ndschaft ist im Umbruch, auch die Bindung der Wähler an eine einzelne Partei wird brüchiger, loser.

Noch immer hat die SPD viele Hochburgen im Kreis. Aber die Hochburgen sind kaum noch Burgen. Sie halten keinem Angriff (etwa und insbesonde­re der Grünen) mehr Stand. Die Partei verliert zunehmend auch dort Rückhalt, wo man lange Zeit dachte: hier nicht.

Seit der Gebietsref­orm 1975 haben die Sozialdemo­kraten im Kreis Wesel vier Landräte gestellt: Werner Röhrich von 1975 bis 1994, Christel Apostel von 1994 bis 1996, Bernhard Nebe von 1996 bis 1999 und Ansgar Müller von 2004 bis 2020. In den vergangene­n 45 Jahren hat die CDU genau fünf Jahre lang die Landrätin gestellt: Birgit Amend-glantschni­g von 1999 bis 2004. Das ist sicher nicht nur Zufall, das hängt sicher nicht nur an den jeweiligen Personen.

Die Chronik zeigt, dass der Kreis Wesel sehr lange in (fast) sicherer SPD-HAND lag. Am Sonntag könnte der Kreis kippen, es wäre eine weitere bittere Pleite der Sozialdemo­kraten. Aber weder kann die SPD aus der Geschichte ableiten, dass Peter Paic gewinnt, noch die CDU, dass der allgemeine Trend Ingo Brohl zum Sieger kürt. Sie haben beide klare Pointen gesetzt, beide hart gekämpft, jetzt muss der Wähler entscheide­n. Gut wäre, wenn es mehr als 23,5 Prozent wären.

Henning Rasche

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