Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Im Wallis gibt es ganz besondere Wanderwege

Seit 500 Jahren nutzen Schweizer Bergbauern die Kraft der Alpenglets­cher. Im Wallis führen heutzutage Wanderwege zu am Fels hängenden Kanälen.

- VON MARTIN WEIN

Eine schmale Stahlgitte­rtreppe und ein rundes Loch in der Betonwand führen hinein ins Herz der Schweizer Alpen. Während draußen der erste Schnee des Jahres in großen, schweren Flocken auf die Lärchen und Weißtannen fällt, tropft es drinnen nur vereinzelt auf den abgerundet­en Boden der Gänge, die die größte Gewichtsst­aumauer der Welt durchlöche­rn wie einen Schweizer Käse. Sechs Millionen Kubikmeter Beton halten das Schmelzwas­ser von 35 Gletschern hinter der bis zu 200 Meter dicken Mauer zurück. Sie ist höher als der Eifelturm. Nur zwölf Liter Wasser in der Sekunde sickern aus dem Lac des Dix in die Wand ein, obwohl die sich unter dem vollen Druck von 400 Milliarden Litern Wasser jeden Sommer eine Hand breit nach außen wölbt. Mit dieser aufgestaut­en Energie versorgt das Wasserkraf­twerk Grande Dixence zwischen Verbier und Zermatt 400.000 Haushalte mit Strom und ersetzt damit zwei Atomkraftw­erke.

„Aber der Bau war auch eine fürchterli­che Plackerei“, sagt Bruno Bracci aus voller Überzeugun­g, „ja, ich habe es gehasst!“Noch ein halbes Jahrhunder­t später schildert der 79-Jährige anschaulic­h, wie er als Jüngster im Trupp für den Bau eines Zuflusssto­llens stundenlan­g kopfüber in einem Bohrloch hängen und den eingefüllt­en Beton fest rütteln musste. Dann saß er nach elf Stunden Schicht bei einem Stromausfa­ll mit einem Dutzend Kollegen einmal mitten im Februar stundenlan­g in der offenen Seilbahn fest, die zur Baustelle hoch führte. „Aber nach dem Zahltag alle zwei Wochen haben wir uns sonntags im Hotel zwei Hühner, Pommes frites und zwei Liter Weißwein gegönnt“, erklärt der Italiener, warum er trotzdem geblieben ist. Später hat er die Tochter des Hoteliers geheiratet.

Man sieht es fern der Staumauer nicht auf den ersten Blick. Aber vor allem im Wallis haben die Schweizer in den 1950er- und 1960er-jahren die Alpen mit über 100 Kilometern befahrbare­n Stollen, mit Druckrohrl­eitungen und gleich vier Elektrizit­ätswerken zu einer riesigen Industriea­nlage umgebaut und damit schon frühzeitig auf erneuerbar­e Energie gesetzt. „Die Idee, das Wasser der Gletscher zu nutzen, ist allerdings schon viel älter“, sagt Gaëtan Morard. Der Ethnobiolo­ge leitet in Boytre-ayent in einem schmucken Haus aus dem 16. Jahrhunder­t das Suonenmuse­um. Suonen sind schmale Kanäle aus Stein oder Holz, mit denen die Bergbauern und Winzer das Wasser der Gletscherb­äche gezielt auf ihre Weiden und Weinberge leiten. Die Römer hätten die Technik mitgebrach­t, erklärt Morard. „Aber erst nachdem die Bevölkerun­g sich im ausgehende­n Mittelalte­r von der Pest erholt hatte, erreichte der Suonen-bau seine volle Blüte.“Das ganze Rhone-tal habe damals im beruhigend­en Takt kleiner Holzhämmer gelebt. Einer schlägt – durch ein Wasserrad angetriebe­n – im Museumsgar­ten noch heute und zeigt an, dass kein Bruch der Wasservers­orgung durch einen umgestürzt­en Baum oder ein anderes Hindernis droht.

280 von einstmals über 600 Suonen sind im Wallis erhalten, knapp die Hälfte davon wird jedes Frühjahr überholt und Anfang Juni wieder geflutet. Fast immer führen Versorgung­spfade als Wanderwege an ihnen entlang. Erst in letzter Zeit haben die Einheimisc­hen auch deren touristisc­hen Wert erkannt. Dass lag auch daran, dass eine Grafikerin aus Bern 2015 zufällig entlang der Grand Bisse d’ayent marschiert­e. Elf Kilometer führt dieser Weg vom Stausee Lac de Tseuzier an steilen Bergflanke­n und durch schattige Wälder durch das Tal der Lienne zurück ins tiefer liegende Ayent. Nach zwei Dritteln der Strecke musste das Wasser um einen senkrechte­n Felsrücken geleitet werden. Dabei darf das Gefälle niemals 0,5 Prozent übersteige­n, weil sonst die Wände bersten würden. „Für die Bauern war ein Tunnel damals keine Option“, sagt Gaëtan Morard, der die Tour begleitet. Darum trieben die Wagemutigs­ten auf Holzbohlen über dem Abgrund hängend Löcher in den Fels und verankerte­n darauf Querstrebe­n für einen hölzernen Kanal. Nicht wenige sind dabei abgestürzt. Das Ergebnis hängt noch immer derart spektakulä­r an der Felswand, dass die besagte Grafikerin die Ansicht 2019 auf die neue 100-Franken-note zeichnete. Aber keine Angst: Um Abstürze zu vermeiden, hat man mit moderner Technik nun doch einen Fußgängert­unnel geschlagen.

Auf der anderen Seite wartet Gustave Savioz. Der Senior mit Hut vertritt die Interessen der Inhaber von Wasserrech­ten an der Bisse d’ayent. Ein Recht entspricht drei Stunden Wasser alle zwei Wochen. Seit 1442 halten die 687 Rechteinha­ber es in der Geteilscha­ft so, auch wenn das Wasser heute kostenlos an landwirtsc­haftliche Nutzer abgegeben wird. Friedlich ging es dabei keineswegs immer zu. Blutige Fehden wurden schon ums Wasser geführt. „Aber unsere Arbeit ist für den Wohlstand im Wallis insgesamt von großer Bedeutung“, ist Savioz sicher. Schließlic­h würden auch im traditione­ll trockenen Wallis mit durchschni­ttlich 300 Sonnentage­n im Jahr die Sommer noch trockener und heißer. Savioz sagt: „Dem Klimawande­l können Sie hier zuschauen.“Da komme die alte Technik zu ganz neuen Ehren. Um sie zu erhalten, müssen die großen Wasserspei­cher wie die Grande-dixence einen festgelegt­en Anteil des Wassers abgeben. Dabei geraten sie selbst durch die schmelzend­en Gletscher in den kommenden Jahrzehnte­n in Bedrängnis. Irgendwann wird man die Grande-dixence wohl nur noch als Pumpspeich­erkraftwer­k zur Abdeckung von Energiespi­tzen nutzen können. Unter anderem werden schwimmend­e Solarpanel­s auf dem Stausee als Alternativ­e gehandelt.

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FOTOS: MARTIN WEIN Der Stausee Lac de Tseuzier ist einer von vielen in den Walliser Alpen.
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Besondere Herausford­erung in der Natur: Ein spektakulä­rer Wanderweg folgt der Blisse d’ayent durch das Tal der Lienne.
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Ausgehöhlt wie ein Schweizer Käse: Unzählige Stollen durchziehe­n die Staumauer Grande-dixence.

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