Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Im Wallis gibt es ganz besondere Wanderwege
Seit 500 Jahren nutzen Schweizer Bergbauern die Kraft der Alpengletscher. Im Wallis führen heutzutage Wanderwege zu am Fels hängenden Kanälen.
Eine schmale Stahlgittertreppe und ein rundes Loch in der Betonwand führen hinein ins Herz der Schweizer Alpen. Während draußen der erste Schnee des Jahres in großen, schweren Flocken auf die Lärchen und Weißtannen fällt, tropft es drinnen nur vereinzelt auf den abgerundeten Boden der Gänge, die die größte Gewichtsstaumauer der Welt durchlöchern wie einen Schweizer Käse. Sechs Millionen Kubikmeter Beton halten das Schmelzwasser von 35 Gletschern hinter der bis zu 200 Meter dicken Mauer zurück. Sie ist höher als der Eifelturm. Nur zwölf Liter Wasser in der Sekunde sickern aus dem Lac des Dix in die Wand ein, obwohl die sich unter dem vollen Druck von 400 Milliarden Litern Wasser jeden Sommer eine Hand breit nach außen wölbt. Mit dieser aufgestauten Energie versorgt das Wasserkraftwerk Grande Dixence zwischen Verbier und Zermatt 400.000 Haushalte mit Strom und ersetzt damit zwei Atomkraftwerke.
„Aber der Bau war auch eine fürchterliche Plackerei“, sagt Bruno Bracci aus voller Überzeugung, „ja, ich habe es gehasst!“Noch ein halbes Jahrhundert später schildert der 79-Jährige anschaulich, wie er als Jüngster im Trupp für den Bau eines Zuflussstollens stundenlang kopfüber in einem Bohrloch hängen und den eingefüllten Beton fest rütteln musste. Dann saß er nach elf Stunden Schicht bei einem Stromausfall mit einem Dutzend Kollegen einmal mitten im Februar stundenlang in der offenen Seilbahn fest, die zur Baustelle hoch führte. „Aber nach dem Zahltag alle zwei Wochen haben wir uns sonntags im Hotel zwei Hühner, Pommes frites und zwei Liter Weißwein gegönnt“, erklärt der Italiener, warum er trotzdem geblieben ist. Später hat er die Tochter des Hoteliers geheiratet.
Man sieht es fern der Staumauer nicht auf den ersten Blick. Aber vor allem im Wallis haben die Schweizer in den 1950er- und 1960er-jahren die Alpen mit über 100 Kilometern befahrbaren Stollen, mit Druckrohrleitungen und gleich vier Elektrizitätswerken zu einer riesigen Industrieanlage umgebaut und damit schon frühzeitig auf erneuerbare Energie gesetzt. „Die Idee, das Wasser der Gletscher zu nutzen, ist allerdings schon viel älter“, sagt Gaëtan Morard. Der Ethnobiologe leitet in Boytre-ayent in einem schmucken Haus aus dem 16. Jahrhundert das Suonenmuseum. Suonen sind schmale Kanäle aus Stein oder Holz, mit denen die Bergbauern und Winzer das Wasser der Gletscherbäche gezielt auf ihre Weiden und Weinberge leiten. Die Römer hätten die Technik mitgebracht, erklärt Morard. „Aber erst nachdem die Bevölkerung sich im ausgehenden Mittelalter von der Pest erholt hatte, erreichte der Suonen-bau seine volle Blüte.“Das ganze Rhone-tal habe damals im beruhigenden Takt kleiner Holzhämmer gelebt. Einer schlägt – durch ein Wasserrad angetrieben – im Museumsgarten noch heute und zeigt an, dass kein Bruch der Wasserversorgung durch einen umgestürzten Baum oder ein anderes Hindernis droht.
280 von einstmals über 600 Suonen sind im Wallis erhalten, knapp die Hälfte davon wird jedes Frühjahr überholt und Anfang Juni wieder geflutet. Fast immer führen Versorgungspfade als Wanderwege an ihnen entlang. Erst in letzter Zeit haben die Einheimischen auch deren touristischen Wert erkannt. Dass lag auch daran, dass eine Grafikerin aus Bern 2015 zufällig entlang der Grand Bisse d’ayent marschierte. Elf Kilometer führt dieser Weg vom Stausee Lac de Tseuzier an steilen Bergflanken und durch schattige Wälder durch das Tal der Lienne zurück ins tiefer liegende Ayent. Nach zwei Dritteln der Strecke musste das Wasser um einen senkrechten Felsrücken geleitet werden. Dabei darf das Gefälle niemals 0,5 Prozent übersteigen, weil sonst die Wände bersten würden. „Für die Bauern war ein Tunnel damals keine Option“, sagt Gaëtan Morard, der die Tour begleitet. Darum trieben die Wagemutigsten auf Holzbohlen über dem Abgrund hängend Löcher in den Fels und verankerten darauf Querstreben für einen hölzernen Kanal. Nicht wenige sind dabei abgestürzt. Das Ergebnis hängt noch immer derart spektakulär an der Felswand, dass die besagte Grafikerin die Ansicht 2019 auf die neue 100-Franken-note zeichnete. Aber keine Angst: Um Abstürze zu vermeiden, hat man mit moderner Technik nun doch einen Fußgängertunnel geschlagen.
Auf der anderen Seite wartet Gustave Savioz. Der Senior mit Hut vertritt die Interessen der Inhaber von Wasserrechten an der Bisse d’ayent. Ein Recht entspricht drei Stunden Wasser alle zwei Wochen. Seit 1442 halten die 687 Rechteinhaber es in der Geteilschaft so, auch wenn das Wasser heute kostenlos an landwirtschaftliche Nutzer abgegeben wird. Friedlich ging es dabei keineswegs immer zu. Blutige Fehden wurden schon ums Wasser geführt. „Aber unsere Arbeit ist für den Wohlstand im Wallis insgesamt von großer Bedeutung“, ist Savioz sicher. Schließlich würden auch im traditionell trockenen Wallis mit durchschnittlich 300 Sonnentagen im Jahr die Sommer noch trockener und heißer. Savioz sagt: „Dem Klimawandel können Sie hier zuschauen.“Da komme die alte Technik zu ganz neuen Ehren. Um sie zu erhalten, müssen die großen Wasserspeicher wie die Grande-dixence einen festgelegten Anteil des Wassers abgeben. Dabei geraten sie selbst durch die schmelzenden Gletscher in den kommenden Jahrzehnten in Bedrängnis. Irgendwann wird man die Grande-dixence wohl nur noch als Pumpspeicherkraftwerk zur Abdeckung von Energiespitzen nutzen können. Unter anderem werden schwimmende Solarpanels auf dem Stausee als Alternative gehandelt.