Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Die Pandemie ist gut für unser Gehirn“
JAN VESPER Der Neurochirurg an der Uniklinik Düsseldorf über die gute Seite der Krise und über die typisch deutsche Angst.
DÜSSELDORF Der „Digitalk“der Stadt Düsseldorf beschäftigte sich kürzlich mit dem Thema „Kein Zurück zur Normalität – mit dem Hirn aus der Krise“. Wir sprachen über das Thema mit einem der Gäste, dem Neurochirurgen Jan Vesper.
Herr Vesper, das Gehirn ist zwar kein Muskel, trotzdem ist Training wichtig, oder?
VESPER Ja, unbedingt. Das beste Training für unsere Nervenzellen ist eine vielseitige Beanspruchung und Nutzung. Das bedeutet die Ansprache aller Sinnesfunktionen, dazu auch Beweglichkeit und generelle Abwechslung.
Nun ist während der Pandemie die Vielfalt etwa der Freizeitgestaltung und bei Bildungsangeboten stark eingeschränkt gewesen. Sehen Sie dadurch nachhaltige negative Auswirkungen?
VESPER Nein. Im Gegenteil. Ich glaube, jeder, der beruflich oder im Alltag normal eingebunden ist, ist durch die Krise mehr gefordert als je zuvor. Wir mussten mit Problemen umgehen lernen, die wir noch vor wenigen Monaten für unmöglich gehalten hätten. Wir machen Videokonferenzen, sind im Homeoffice, probieren Lehre auf Distanz und vieles andere. Diese Neuerungen haben unser Gehirn unglaublich gefordert und weiterentwickelt.
Und was machen diejenigen, die nicht mehr im Berufsleben stehen und vielleicht alt und einsam sind? VESPER Auch diese Menschen müssen in der Krise nicht abgehängt sein. Hier ist die Gesellschaft gefordert. Wir müssen uns umeinander kümmern und Kontakte halten, etwa durch Anrufe mit Facetime. Aber auch das haben wir in der Krise bewiesen: Deutschland hat eine große Grundsolidarität und Fürsorge gezeigt.
Also nutzt die Krise unserem Gehirn mehr, als dass sie ihm schadet? VESPER Ja, ich bin überzeugt davon: Für unser Gehirn war die Krise gut. Neuerungen, die wir noch vor einem Jahr für absolut unmöglich gehalten hätten, sind heute Alltag geworden. Bestes Beispiel ist die Digitalisierung. Die Corona-krise hat diese Entwicklung wie ein Turbo beschleunigt. Wir haben es innerhalb kürzester Zeit geschafft, uns völlig neuen Herausforderungen anzupassen. Wir sind mit der Sache gewachsen. Vor der Pandemie haben wir die Furcht vor der Digitalisierung eher wie ein Schild vor uns her getragen.
Im Ausland gibt es ja den Begriff der „German Angst“. Ist Furcht vor Neuem also typisch deutsch? VESPER Ja, die Meinung, dass die Deutschen vor allem und jedem Angst haben, ist im Ausland fest etabliert. Tatsächlich ist der Begriff „German Angst“etwa im Amerikanischen ein verbreitetes Idiom. Und wir Deutschen sind ja auch tatsächlich Weltmeister in Sachen Versicherungen und Vorsorge. Wir versichern Handys, Glasbruch und was sonst noch alles. Aber man kann auch einmal die Kehrseite dieser Medaille betrachten: Diese Angst hat uns in der Krise auch genützt. Sie hat dafür gesorgt, dass wir vorsichtiger waren als andere Länder und uns mehr umeinander gekümmert haben. Diese Grundsolidarität und auch die staatliche Fürsorge sind etwas Positives.
Was passiert denn da bei unserer Angst biologisch im Gehirn?
VESPER Im Prinzip ist es ein permanenter Wettstreit zwischen dem Rationalen, das hauptsächlich vom
Frontalhirn gesteuert wird, und der sogenannten Amygdala, dem Mandelkern im Hirnstamm. Hier findet die emotionale Verarbeitung statt. Wir nennen es auch das Angstzentrum. Der Mensch lebt im ständigen Widerstreit dieser beiden Komponenten. Ein Beispiel: Die Vernunft sagt uns, dass es im Moment wichtig ist, einen Mund-nasen-schutz zu tragen. Die emotionale Ebene wehrt sich aber dagegen, weil sie das Tragen der Maske natürlich als unangenehm empfindet.
Gibt es ein Zurück zur alten Normalität vor der Krise?
VESPER Nein. Die eingeleiteten Umbrüche sind alternativlos. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob Veränderungen kommen oder nicht. Sondern wir müssen fragen: Wie?
Das passt gut zu der These, dass lebenslanges Lernen wichtig ist. VESPER Ja, unbedingt. Die Krise und die psychologische Erfahrung, dass wir diesen wachsenden Ansprüchen bisher gut gewachsen waren, macht uns auch künftig aufgeschlossener gegenüber Neuem und Unbekanntem. Wir werden künftig eher bereit sein, Entwicklungen der Digitalisierung zu akzeptieren. Fachleute sprechen immer davon, dass rund ein
Drittel unseres Gehirns ungenutztes Brachland ist. Die wachsenden Erfordernisse treiben die Veränderungen und das Lernen voran. Künftig kann das Gehirn zur zusätzlichen Platine unseres Lebens werden.
Stichwort Weiterentwicklung: Was sagen Sie zu demonstrierenden Corona-leugnern?
VESPER Gegen Menschen, bei denen offenbar beide Hirnhälften außer Kraft sind, kann man nichts machen. So etwas muss unsere Gesellschaft aushalten.