Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Hunderttausende Jobs stehen auf dem Spiel“
Die Hauptgeschäftsführerin des Hotelund Gaststättenverbandes über Folgen des Lockdowns, zu bürokratische Staatshilfen und Fehler der Politik.
Frau Hartges, haben Sie Verständnis dafür, dass Unternehmer wie der damit bekanntgewordene Kosmetiker aus Krefeld ankündigen, trotz der Corona-regeln zu öffnen? HARTGES Nein. Ich verstehe zwar den Unmut und die Verzweiflung vieler Unternehmer sowie das Gefühl von Perspektivlosigkeit, da auch die zugesagten Hilfen immer noch nicht angekommen sind. Aber ich akzeptiere nicht, wenn bewusst gegen die geltenden Corona-regeln verstoßen und zum Rechtsbruch aufgerufen wird.
Dienlich sind solche Alleingänge der Sache sicher nicht, oder? HARTGES Nein, das ist kontraproduktiv! In unserer Branche der Gastfreundschaft hat die Gesundheit der Mitarbeiter und unserer Gäste stets höchste Priorität.
Der Unmut ist groß. Wer ist schuld? HARTGES Die Bekämpfung der Pandemie stellt für uns alle, insbesondere auch für die Politik, eine nie gekannte Herausforderung dar. Die politisch Verantwortlichen müssen ihre Maßnahmen sorgfältig wie nachvollziehbar begründen und laufend überprüfen. Die unterschiedlichen Stimmen aus der Wissenschaft, aber auch aus der Politik machen es nicht leichter. Es muss besser erklärt werden, dann können alle Bürger die Entscheidungen auch nachvollziehen, und die
Akzeptanz für notwendige Maßnahmen wird steigen.
Was muss die Politik konkret anders machen?
HARTGES Es muss zweifelsohne besser organisiert werden. Dies betrifft die Organisation von ausreichendem Impfstoff und die schnellstmögliche Umsetzung der Impfstrategie genauso wie die schnelle und unbürokratische Auszahlung der zugesagten Hilfen für die Gastronomie und Hotellerie. Eigentlich sind wir in Deutschland dafür bekannt, dass wir gut organisieren können. Jetzt in der Krise zeigt sich allerdings, dass der Föderalismus nicht immer hilfreich ist und dass pragmatisches wie unternehmerisches Denken in der Politik wie in den Verwaltungen ausbaufähig ist.
Es wird viel darüber geklagt, dass angekündigte Hilfen für viele Unternehmen nicht zu bekommen sind und dass Hilfen nicht ankommen. Ist die Klage berechtigt? HARTGES Die Bundesregierung und die Landesregierungen haben mit den Soforthilfen im Frühjahr schnell vielen kleinen Unternehmen und Solo-selbstständigen geholfen. Mit den Überbrückungshilfen wurde es wesentlich komplizierter. Im Juni wurden dafür fast 25 Milliarden Euro angekündigt, aber für die Überbrückungshilfen I und II sind bis heute keine drei Milliarden Euro bei den notleidenden Unternehmen angekommen. Bei den Novemberhilfen gab und gibt es erhebliche Probleme. Abschlagszahlungen von bis zu 50.000 Euro sind im Dezember und im Januar an viele kleine und mittlere Unternehmen ausgezahlt worden. Doch die großen Arbeitgeber der Branche warten immer noch verzweifelt auf die Gelder.
Hat Finanzminister Scholz zu viel versprochen?
HARTGES Olaf Scholz und Peter Altmaier haben richtigerweise die außerordentliche Wirtschaftshilfe für November und Dezember den Branchen zugesagt, die am 2. November bereits geschlossen wurden, damit die übrige Wirtschaft und die Schulen geöffnet bleiben konnten. Für dieses Sonderopfer wurden die Hilfen versprochen. Jetzt müssen sie auch auf den Konten der existenziell betroffenen Unternehmer eingehen. Ansonsten stehen Existenzen und das Vertrauen in die Politik auf dem Spiel.
Wenn man sich mit den Regeln beschäftigt, klingt das alles immer extrem kompliziert...
HARTGES Das ist zutreffend. In dem Beihilfe-dschungel verlieren tatsächlich viele den Durchblick. Das Ganze ist ein enormer bürokratischer Aufwand, selbst Steuerberater beklagen das. Darüber hinaus gab es erhebliche Probleme mit der Softgen ohnehin alle Daten vor, und eine missbrauchssichere Auszahlung der Hilfen wäre darüber auch bestens gewährleistet. Österreich ist diesen Weg gegangen. Dort hat es erfolgreich funktioniert. Aber das war bei uns nicht gewollt. Stattdessen haben wir jetzt in jedem Bundesland eine andere Genehmigungsstelle: Mal wird alles über eine Landesbank abgewickelt, dann über eine IHK, woanders wieder über eine andere Stelle.
Wie trifft der Lockdown Ihre Branche aktuell in Zahlen?
HARTGES Von März bis Dezember 2020 haben wir 40 Milliarden Euro verloren, die Hälfte unseres Umsatzes. Den Umsatzverlust im Januar schätzen wir auf 80 Prozent.
Wie viele Gastronomen werden wegen der Pandemie aufgeben müssen?
HARTGES Wir gehen davon aus, dass 70.000 Betriebe die Krise nicht überstehen werden. Drei Viertel aller Betriebe bangen um ihre Existenz. Zu Ende Januar haben die meisten Betriebe unserer Branche mehr als fünf Monate geschlossen. Heißt: Fünf Monate ohne Einnahmen bei weiterlaufenden hohen Kosten – das überstehen auch die gesündesten Unternehmen nicht.
Was heißt das für den Arbeitsmarkt?
HARTGES Hunderttausende Jobs stehen auf dem Spiel. Ausweislich der aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ist das Gastgewerbe die von der Pandemie am stärksten betroffene Branche – das ist bitter! Vor der Krise war das Gastgewerbe ein überaus erfolgreicher Jobmotor. In den vergangenen zehn Jahren hat unsere Branche 300.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen. Ich bin sehr dankbar, dass wir in Deutschland das Kurzarbeitergeld haben. Damit wird es hoffentlich möglich sein, die große Mehrzahl der Mitarbeiter zu halten. Ich erwarte, dass die Politik die hohe arbeitsmarktpolitische wie auch gesellschaftliche Relevanz unserer Branche anerkennt und alles dafür tut, die Zukunft der Gastgeber zu sichern.
Verlieren Sie manchmal nicht die Hoffnung, dass es besser wird? HARTGES Auf keinen Fall! Ich bleibe zuversichtlich. Die Pandemie muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erfolgreich bekämpft werden. Die zugesagten Hilfen müssen jetzt ankommen, wo sie dringend benötigt werden, damit Arbeitsplätze und Unternehmen gerettet werden. Zuversicht und Hoffnung schöpfe ich aus der großen Unterstützung, die wir von unseren Gästen erfahren.