Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Deutschland braucht Straßenfußballer
An den Akademien erstickt der Fußball im Schema. Deshalb verlieren die deutschen Nachwuchsmannschaften international den Anschluss, und deshalb muss mehr Freiheit her.
Alle Jahre wieder machen die Fußball-sachverständigen diese Diskussion auf. Wenn es rumpelt im großen Fußball, wenn es zu geordnet zugeht auf dem Feld, wenn alles zu berechenbar erscheint, wenn die große Langeweile herrscht, dann kommt garantiert einer und klagt: „Wir haben keine Straßenfußballer mehr.“
Diesmal verdankt Deutschland diese Einsicht Andreas (Andy) Möller, der immerhin mal Weltmeister wurde und deshalb weiß, wovon er spricht. Unterdessen leitet er das Nachwuchsleistungszentrum seines Heimatvereins Eintracht Frankfurt, und in dieser Eigenschaft fasste er die Klage in eine Forderung. „Wir wollen doch kreative Spieler“, sagte er dem Fachmagazin „Kicker“, „wir wollen eine Generation von Straßenfußballern.“
Wenn man Möllers Forderung wörtlich nimmt, ist sie ziemlich realitätsfern. Wie soll es Straßenfußballer geben, wenn der Fußball auf der Straße anders als in wenig motorisierten Zeiten wie in den 1950er oder 1960er Jahren lebensgefährlich ist und da, wo früher Bolzplätze in Baulücken improvisiert wurden, heute Häuser stehen?
Also geht’s um den Inhalt des Begriffs. Straßenfußball – das ist ein Schuss Anarchie, das sind Dribblings auf engem Raum, Gefühl für den Ball auf schwierigem Untergrund, Durchsetzungsvermögen in buchstäblich engen Spielsituationen, Einfallsreichtum, Lösungen aus dem Bauch heraus. All das lernte man früher auf Straßen und Bolzplätzen. Aber es geriet in Vergessenheit, weil es einerseits weniger Raum auf den Straßen und weniger Bolzplätze gab und weil sich andererseits Klubs und Verband zum Ziel setzten, dem wilden Improvisieren mit kontrollierter Schulung zu begegnen. Spätestens nach dem Rumpelfußballs der Jahrtausendwende wurde nach allen Regeln der didaktischen Kunst der feine Fußball gelehrt, das zügige Passspiel, die Ordnung im Raum, die Funktion des Kollektivs.
Das hatte viele positive Effekte – unter anderem den Wm-titel einer deutschen Mannschaft, die als perfekte Gruppe funktionierte. In den Schulungsprogrammen hatten allerdings Solokünstler und
Sonderlinge keinen Platz. Die Lust am Dribbling stand auf dem Index, an die Stelle des Improvisierens rückte taktisches Wissen. Der späte Mehmet Scholl bedauerte, dass die heutige Generation vier taktische Systeme auswendig herbeten könne, in unerwarteten Situationen jedoch keine Lösungen habe. Er drückte das ein bisschen unfeiner aus, aber er hatte im Prinzip recht. Er selbst steht in einer langen Reihe jener, die voller Wehmut jeweils als „der letzte Straßenfußballer“bezeichnet wurden. Olaf Thon ist ein anderes Exemplar dieser offenbar immer wieder mal aussterbenden Art, Franck Ribéry und (ja auch) Mesut Özil gelten als gerade noch lebende Vertreter.
Sie verwehren sich dem Schema, in das die Fußball-akademien ihre braven Absolventen pressen. Und weil das Schema niemals die ganze Tiefe des Spiels ermessen kann, fehlt es dem deutschen Fußball an Nachwuchs, der Antworten auf Fragen des Spiels findet, die im Lehrplan nicht gestellt werden (können). Die Sehnsucht nach dem Straßenfußballe ist nichts als die Sehnsucht nach Freiheit im Käfig der Taktik.
Und wie lassen sich Straßenfußballer entwickeln, wo sich doch Freiheit so schlecht in Programme fassen lässt? Eine Idee ist: mehr Freiheit gewähren, auch auf dem Platz, nicht jeden Fummler ins System pressen, Solisten respektieren. Das hört sich nur einfach an. Aber es ist, wie die Kanzlerin sagen würde, alternativlos. Das zeigt die Bilanz der deutschen Nachwuchsteams, die international den Anschluss verloren haben.