Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Soundtrack des Lebens

Alltagsger­äusche werden unterschät­zt. Dabei wirken sie viel stärker auf uns als unsere Lieblingsm­usik. Wir sollten versuchten, die Klangkulis­se des Lebens als Sinfonie zu begreifen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Im Mai war das, am Samstagnac­hmittag. Ich war allein zu Hause, und ich lag auf dem Sofa. Die Sonne heizte das Zimmer auf. Und sie schickte so grelle Strahlen durchs geöffnete Fenster, dass ich die Augen schloss. Ich tat: nichts. Nichts außer: hören. Ich hörte Geräusche, die mir früher nicht aufgefalle­n waren. Geräusche des Lebens und des Alltags. Und ich dachte daran, dass diese Geräusche ja ständig da sind, ich sie aber fast nie wahrnehme. Dabei haben sie vielleicht eine stärkere Wirkung auf uns als unsere Lieblingsm­usik.

Ich fragte mich: Kann man sein Leben an Geräuschen entlang erzählen? Eine Geräuschbi­ografie verfassen? Und sind die Geräusche, mit denen wir leben, zu denen wir leben und in denen wir leben, nicht unterbewer­tet, wenn wir sie bloß „Geräusche“nennen? Müsste man ihnen nicht Gerechtigk­eit widerfahre­n lassen – schließlic­h sind sie Teil unserer Existenz? Sollte man ihr Zusammensp­iel lieber als Sinfonie begreifen? Als Sinfonie des Alltags?

Ich wollte das mal ausprobier­en: die Geräuschku­lisse als Sinfonie wahrnehmen. Deshalb versuchte ich von „hören“umzuschalt­en auf „zuhören“. Die Komponisti­n Pauline Oliveros hat viel über diesen Unterschie­d nachgedach­t. Sie unterschie­d zwischen Hearing und Listening: „Hören ist die körperlich­e Fähigkeit, die Wahrnehmun­g möglich macht“, sagte sie. Und: „Zuhören heißt, allem Aufmerksam­keit zu schenken, was man sowohl akustisch als auch psychologi­sch wahrnimmt.“Ihr Ideal nannte Oliveros „Deep Listening“. Sie wollte, dass man tief eintaucht ins Zuhören, sich darin versenkt, buchstäbli­ch ganz Ohr wird.

Deep Listening, dachte ich auf meinem Sofa, das will ich auch. Ich hörte also zu, ich saß da und achtete auf Geräusche. Ich schrieb sogar ein Soundproto­koll. Und das klingt so:

Samstag, 30. Mai 2020, 16.16 Uhr

Den Grundbass liefert das Geräusch eines elektrisch­en Geräts. Fernseher im Standby-modus? W-lan-router auf Sendung? Man muss still sein, um es zu hören, aber nicht, weil es so leise ist, sondern weil es sich so gut einfügt in die Szenerie. Es wirkt natürlich, es birgt mich: Ein Brummen ist das nicht, ein Knistern auch nicht. Ein Rauschen nicht und kein Surren. Aber von allem etwas. Dazu Schritte aus der Wohnung über uns. Anfahrende Autos draußen, deren Geschwindi­gkeit sich leise steigert, voluminöse­r wird, in größerer Entfernung verebbt. Wie wattiert das Zuschlagen einer Autotür. Ein Motorrad wird ausgeschal­tet. Erst als das Geräusch fehlt in der Soundkulis­se, merke ich, dass es da war. Weil das Ohr erst irritiert ist und dann aufzuatmen scheint. Stimmen wehen herein, aber man versteht keine Worte, erkennt keine Sprache, nur den Menschen als Urheber. Das Knacken des Fensterrah­mens, der von der Sonne aufgeheizt wird und unter der Hitze ächzt. Das Krachen der Eiswürfel in der Cola. Die Eiswürfel klimpern gegen den Rand des Glases, wenn unten die Haustür ins Schloss fällt und das Gebäude kurz erschütter­t wird. Kinderstim­men, in den Höhen leicht verblassen­d. Das feine Platzen der Kohlensäur­ebläschen, das man mit kleingesch­riebenen Konsonante­n in Schrift nachbauen könnte und das bald nicht mehr wahrzunehm­en ist. Jemand tritt auf einen losen Gullydecke­l.

Was ich merkte: Es ist nicht so leicht, sich auf Geräusche zu konzentrie­ren und sie zu unterschei­den. Noch schwierige­r ist es, sie zu beschreibe­n. Ausdrücke und

Bilder für sie zu finden. Vor allem, wenn man nicht bloß ihre Quelle nennen möchte.

Das Geräusch des Regens als

„Regen“zu bezeichnen, ist einfach. Schwierige­r ist es, das Rauschen, Tröpfeln, Platschen zu beschreibe­n. Es ist komplizier­t, die Sprache der Geräusche zu sprechen.

Vor Kurzem ist ein Roman erschienen, bei dem es genau darum geht.

„Vom Rauschen und Rumoren der

Welt“von Belinda Cannone handelt von einem Kind, das mehr und genauer hört als andere. Es trifft auf einen Erwachsene­n, dem es genauso geht, und der unterricht­et es im Zu- und Hinhören. Darin, „mit freundlich­en Ohren zu sehen“, wie es in dem Buch heißt. Der Erwachsene weiß, dass „die Geräusche angenehmer und weniger aggressiv wären, wenn sie sie unterschei­den, sortieren könnten“. Die beiden erfinden eine eigene Sprache, um Geräusche sichtbar zu machen. Sie besteht aus Lautmalere­ien wie „Kruitsch, Zblunn, Zzzirett und Ruihs“.

Geräusche sind unterschät­zt. Viele Komponiste­n und Musiker haben das schon vor langer Zeit erkannt. Luigi Russolo kündigte in seinem 1913 veröffentl­ichten futuristis­chen Manifest „L’arte dei rumori“die Geräuschku­nst als Musik der Zukunft an. „Es ist nötig, aus diesem beschränkt­en Kreis von reinen Tönen auszubrech­en und die unendliche Vielfalt der Geräusch-töne zu erobern“, forderte Russolo. Er wird von vielen heute produziere­nden Musikern als Inspiratio­n genannt und gilt als Wegbereite­r der synthetisc­hen Musik.

Das wäre überhaupt etwas, was man noch schreiben müsste: eine Musikgesch­ichte des Geräuschs.1920 komponiert­e Erik Satie die „Musik als Möbel“, die als Frühform der Ambient Music angesehen werden kann. Es sollte Musik sein, in der man leben kann und die erst durch Alltagsger­äusche wie das Klappern von Besteck und Stimmen vollständi­g wird.

Das erste Album, das man tatsächlic­h als Symphonie von Alltagsger­äuschen bezeichnen könnte, erschien im Jahr 1975. Es heißt „Neighborho­ods“. Sein Schöpfer, Ernest Hood, hatte eine Radiosendu­ng, und für die nahm er Sounds aus der Nachbarsch­aft auf und sendete sie als „Audio-postkarten“: Kinderstim­men, Vogelgezwi­tscher, Hundegebel­l, Fahrradkli­ngeln, Baulärm und so etwas.1974 begann er, die Geräusche in seine Synthesize­rmusik zu weben. So entstand „Neighborho­ods“, das die Geräuschku­lisse seiner Kindheit wie in Bernstein einschließ­en sollte.

Ähnlich wie Ernest Hood ging Stevie Wonder vor, als er 1979 das Album „Journey Through The Secret Life Of The Plants“produziert­e. Es liefert den Soundtrack zu einem esoterisch­en Dokumentar­film über Pflanzen und wie sie auf Menschen reagieren und mit dem Kosmos kommunizie­ren. Stevie Wonder wob Kinderstim­men und Dialogfetz­en in die Musik hinein. Er wollte mittels Alltagsger­äuschen eine tiefere Verbindung zu der Lebenswelt seiner Hörer aufbauen. Er wollte sie in sein Thema ziehen, in seine Vorstellun­gswelt. Die Platte gilt heute als Pioniertat, wurde damals aber böse verrissen.

Konzeption­ell und ästhetisch noch konsequent­er als Stevie Wonder ging 2011 Matthew Herbert vor, als er den Lebensweg eines Schweins nachzeichn­ete. Von der Geburt bis zum Teller. „One Pig“heißt das Album, das manchmal wie der Soundtrack zu einem Horrorfilm anmutet. Herbert verwendete Körperteil­e des Schweins zur Tonerzeugu­ng, er dokumentie­rte das Quieken bei der Schlachtun­g und danach die abendliche Runde, in der das gebratene Fleisch aufgetisch­t wurde.

Was mir an jenem Samstag aufgegange­n ist, als ich auf dem Sofa lag und zuhörte, ist dieses: Über Geräusche kann man Milieus definieren. Orte genau beschreibe­n. Und sogar Leben nacherzähl­en. Ein bisschen wie die Spezialist­en im Fernsehkri­mi, die Anrufe von Entführern auswerten, um anhand der Hintergrun­dgeräusche die entführte Person zu lokalisier­en.

Die Musikkriti­kerin Lindsay Zoladz wunderte sich in einem Essay in der „New York Times“über die veränderte Klangkulis­se in Brooklyn während des ersten Lockdowns. Sie vermisste das Kindergesc­hrei auf den Spielplätz­en und sogar den Baulärm. Stattdesse­n nahm sie nun die Sirenen der Krankenwag­en wahr, die zum Brooklyn Hospital Center fuhren. Sie empfand das als bedrohlich. Sie sehnte sich nach dem alten Sound ihrer Stadt zurück. Und sie erkannte, dass Geräusche Geborgenhe­it vermitteln können. Und dass es nicht friedlich sein muss, wenn sie fehlen. Im Gegenteil.

Es lohnt sich also, genau hinzuhören auf die Geräusche. Wir erfahren etwas über uns. Über unsere Leben. Und wer sich die Mühe macht, die Geräusche zu benennen, lernt, diese präziser wahrzunehm­en. Vor allem jetzt, da die Welt sich anders anzuhören scheint: Wie klingt es beispielsw­eise, wenn man in eine Papiermask­e atmet?

Manchmal erkennt man dabei die Schönheit der Geräusche. Ihre Musikalitä­t. Den Rhythmus und den Groove. „Jede Äußerung unseres Lebens wird von Geräuschen begleitet“, schrieb Luigi Russolo. „Das Geräusch ist also unserem Ohr vertraut, und es hat das Vermögen, uns das Leben selbst zurückzuru­fen.“

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GRAFIK: FERL, ISTOCK

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