Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wenn die Arbeit Risiko und Halt zugleich ist
Eltern von Menschen mit schweren Behinderungen belastet das Infektionsrisiko besonders. Das beginnt schon bei der Anfahrt.
KLEVE Marieta Schumacher sorgt sich um ihren Sohn. Der 35-Jährige ist schwerstbehindert und lebt in einer Wohngemeinschaft der Lebenshilfe in Kleve. Trotz Pandemie soll er in der örtlichen Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten, dem Haus Freudenberg. Eine Tätigkeit, die ihm eigentlich viel Freude bereitet, sorgt sie doch für ein bisschen zusätzliche Abwechslung und Struktur in seinem Alltag. „Aber“, sagt seine Mutter, „wegen Corona ist die Arbeit für ihn natürlich mit enormen Risiken verbunden. Wenn er in Quarantäne müsste, wäre das eine Katastrophe für ihn.“Er verstehe ja nicht, wieso er dann auf seinem Zimmer bleiben müsse und nicht zu anderen dürfe. „Er denkt stattdessen, er hätte etwas angestellt.“
Schumacher und einige andere Familien, die ein schwerstbehindertes Kind haben, haben ihre Kinder deswegen kurzfristig erst einmal beurlaubt, damit sie nicht zur Arbeit in die Werkstatt müssen. Sie wünschen sich allerdings eine klare Regelung durch das Land. Für den Bereich der geistig Behinderten und Schwerbehinderten würde eine einheitliche gesetzliche Grundlage fehlen, bemängelt sie. „Wir Eltern von geistig behinderten Kindern fühlen uns in der Pandemie im Stich gelassen. Wie erklärt man einem geistig behinderten Menschen, dass er bei einer Quarantäne viele Tage sein Zimmer nicht verlassen darf?“, fragt sie. „Diese Menschen haben in dieser schwierigen Phase bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren.“
Die Werkstätten in Nordrhein-westfalen halten auch im Lockdown den Regelbetrieb offen. „Landschaftsverbände und Werkstätten für behinderte Menschen wollen ebenso wie die Landesregierung den Beschäftigten auch unter den schwierigen Bedingungen der Corona-pandemie eine sichere Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen. Die Beschäftigung gibt den betroffenen Menschen Halt und Tagesstruktur“, sagt ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums auf Anfrage unserer Redaktion.
Um aber der Verunsicherung der Werkstattbeschäftigten und der Angehörigen Rechnung zu tragen und Anwesenheiten zu reduzieren, werde die Entscheidung über die Form der Teilhabe am Arbeitsleben für die Zeit des Lockdowns stärker in das Ermessen der Beschäftigten und Werkstätten gestellt, so der Sprecher weiter. Demnach haben die Werkstattbeschäftigten derzeit drei Möglichkeiten: die Teilhabe am Arbeitsleben in der Werkstatt, die Teilhabe am Arbeitsleben in der eigenen Wohnung sowie die Teilhabe am Arbeitsleben in der stationären oder teilstationären Wohnform.
Im Haus Freudenberg kann man die Sorgen der Eltern sehr gut nachvollziehen. Gleichzeitig sei das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben für die Beschäftigten ein hohes Gut, sagt Geschäftsführerin Barbara
Stephan. „Hierbei gilt es abzuwägen: zwischen der Bedeutung des Werkstattbesuchs für die Menschen mit Behinderung einerseits und dem Bedarf nach Kontaktreduzierung im Hinblick auf das Infektionsgeschehen andererseits“, so Stephan.
Der überwiegende Teil ihrer Beschäftigten wünsche sich – gerade in der schwierigen Zeit der Corona-pandemie – die Struktur und den Halt, den die tägliche Arbeit und Betreuung in der Werkstatt ihnen biete. „Wenn Beschäftigte oder Wohneinrichtungen Ängste oder Bedenken hinsichtlich des Werkstattbesuches haben, werden in diesem Fall individuelle Lösungen abgestimmt – etwa die Bereitstellung von Arbeit und Beschäftigung im häuslichen Bereich“, erklärt Stephan.
Eine besondere Herausforderung stellt häufig auch der Weg vom Wohnheim zur Werkstatt dar. Aus Versicherungsgründen müssen die Menschen mit Schwerstbehinderungen dorthin gefahren werden – oft in kleinen Bussen, gemeinsam mit anderen. „Mein Sohn sitzt dann zusammen mit zehn bis zwölf anderen in einem Kleinbus. Alle tragen Masken und sitzen dicht gedrängt“, sagt Schumacher. Eine Zumutung sei das. Bei der Lebenshilfe NRW heißt es dazu, dass die Fahrdienste bedarfsgerecht aufrechterhalten werden; sie seien aber gegebenenfalls an die Besonderheiten des Infektionsschutzes anzupassen.
Die Werkstatt Haus Freudenberg hat nach eigenen Angaben ein umfassendes Gesundheits- und Hygienekonzept sowie ein Konzept zur Durchführung von Schnelltests entwickelt und mit der örtlichen Gesundheitsbehörde sowie den Leistungsträgern abgestimmt. „Dieses wird in Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen fortlaufend weiterentwickelt. Alle Beschäftigten werden regelmäßig zu den Regelungen geschult“, so die Geschäftsführerin.
Den Beschäftigten der Klever Werkstatt sei nun bis Monatsende freigestellt worden, zur Arbeit zu kommen oder nicht, berichtet Schumacher. Viele der Beschäftigten bleiben daher derzeit in ihren Wohnhäusern und Wohngruppen. „Aber es reicht ja, wie im Wohnhaus meines Sohnes, wenn nur ein Einzelner die Befugnis hat, für sich zu entscheiden, weiterhin zu arbeiten. Damit potenziert sich die Wahrscheinlichkeit eines Infektionsgeschehens“, sagt Schumacher.