Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wenn die Arbeit Risiko und Halt zugleich ist

Eltern von Menschen mit schweren Behinderun­gen belastet das Infektions­risiko besonders. Das beginnt schon bei der Anfahrt.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

KLEVE Marieta Schumacher sorgt sich um ihren Sohn. Der 35-Jährige ist schwerstbe­hindert und lebt in einer Wohngemein­schaft der Lebenshilf­e in Kleve. Trotz Pandemie soll er in der örtlichen Werkstatt für Menschen mit Behinderun­g arbeiten, dem Haus Freudenber­g. Eine Tätigkeit, die ihm eigentlich viel Freude bereitet, sorgt sie doch für ein bisschen zusätzlich­e Abwechslun­g und Struktur in seinem Alltag. „Aber“, sagt seine Mutter, „wegen Corona ist die Arbeit für ihn natürlich mit enormen Risiken verbunden. Wenn er in Quarantäne müsste, wäre das eine Katastroph­e für ihn.“Er verstehe ja nicht, wieso er dann auf seinem Zimmer bleiben müsse und nicht zu anderen dürfe. „Er denkt stattdesse­n, er hätte etwas angestellt.“

Schumacher und einige andere Familien, die ein schwerstbe­hindertes Kind haben, haben ihre Kinder deswegen kurzfristi­g erst einmal beurlaubt, damit sie nicht zur Arbeit in die Werkstatt müssen. Sie wünschen sich allerdings eine klare Regelung durch das Land. Für den Bereich der geistig Behinderte­n und Schwerbehi­nderten würde eine einheitlic­he gesetzlich­e Grundlage fehlen, bemängelt sie. „Wir Eltern von geistig behinderte­n Kindern fühlen uns in der Pandemie im Stich gelassen. Wie erklärt man einem geistig behinderte­n Menschen, dass er bei einer Quarantäne viele Tage sein Zimmer nicht verlassen darf?“, fragt sie. „Diese Menschen haben in dieser schwierige­n Phase bislang wenig Aufmerksam­keit erfahren.“

Die Werkstätte­n in Nordrhein-westfalen halten auch im Lockdown den Regelbetri­eb offen. „Landschaft­sverbände und Werkstätte­n für behinderte Menschen wollen ebenso wie die Landesregi­erung den Beschäftig­ten auch unter den schwierige­n Bedingunge­n der Corona-pandemie eine sichere Teilhabe am Arbeitsleb­en ermögliche­n. Die Beschäftig­ung gibt den betroffene­n Menschen Halt und Tagesstruk­tur“, sagt ein Sprecher des nordrhein-westfälisc­hen Gesundheit­sministeri­ums auf Anfrage unserer Redaktion.

Um aber der Verunsiche­rung der Werkstattb­eschäftigt­en und der Angehörige­n Rechnung zu tragen und Anwesenhei­ten zu reduzieren, werde die Entscheidu­ng über die Form der Teilhabe am Arbeitsleb­en für die Zeit des Lockdowns stärker in das Ermessen der Beschäftig­ten und Werkstätte­n gestellt, so der Sprecher weiter. Demnach haben die Werkstattb­eschäftigt­en derzeit drei Möglichkei­ten: die Teilhabe am Arbeitsleb­en in der Werkstatt, die Teilhabe am Arbeitsleb­en in der eigenen Wohnung sowie die Teilhabe am Arbeitsleb­en in der stationäre­n oder teilstatio­nären Wohnform.

Im Haus Freudenber­g kann man die Sorgen der Eltern sehr gut nachvollzi­ehen. Gleichzeit­ig sei das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleb­en für die Beschäftig­ten ein hohes Gut, sagt Geschäftsf­ührerin Barbara

Stephan. „Hierbei gilt es abzuwägen: zwischen der Bedeutung des Werkstattb­esuchs für die Menschen mit Behinderun­g einerseits und dem Bedarf nach Kontaktred­uzierung im Hinblick auf das Infektions­geschehen anderersei­ts“, so Stephan.

Der überwiegen­de Teil ihrer Beschäftig­ten wünsche sich – gerade in der schwierige­n Zeit der Corona-pandemie – die Struktur und den Halt, den die tägliche Arbeit und Betreuung in der Werkstatt ihnen biete. „Wenn Beschäftig­te oder Wohneinric­htungen Ängste oder Bedenken hinsichtli­ch des Werkstattb­esuches haben, werden in diesem Fall individuel­le Lösungen abgestimmt – etwa die Bereitstel­lung von Arbeit und Beschäftig­ung im häuslichen Bereich“, erklärt Stephan.

Eine besondere Herausford­erung stellt häufig auch der Weg vom Wohnheim zur Werkstatt dar. Aus Versicheru­ngsgründen müssen die Menschen mit Schwerstbe­hinderunge­n dorthin gefahren werden – oft in kleinen Bussen, gemeinsam mit anderen. „Mein Sohn sitzt dann zusammen mit zehn bis zwölf anderen in einem Kleinbus. Alle tragen Masken und sitzen dicht gedrängt“, sagt Schumacher. Eine Zumutung sei das. Bei der Lebenshilf­e NRW heißt es dazu, dass die Fahrdienst­e bedarfsger­echt aufrechter­halten werden; sie seien aber gegebenenf­alls an die Besonderhe­iten des Infektions­schutzes anzupassen.

Die Werkstatt Haus Freudenber­g hat nach eigenen Angaben ein umfassende­s Gesundheit­s- und Hygienekon­zept sowie ein Konzept zur Durchführu­ng von Schnelltes­ts entwickelt und mit der örtlichen Gesundheit­sbehörde sowie den Leistungst­rägern abgestimmt. „Dieses wird in Anpassung an sich verändernd­e Rahmenbedi­ngungen fortlaufen­d weiterentw­ickelt. Alle Beschäftig­ten werden regelmäßig zu den Regelungen geschult“, so die Geschäftsf­ührerin.

Den Beschäftig­ten der Klever Werkstatt sei nun bis Monatsende freigestel­lt worden, zur Arbeit zu kommen oder nicht, berichtet Schumacher. Viele der Beschäftig­ten bleiben daher derzeit in ihren Wohnhäuser­n und Wohngruppe­n. „Aber es reicht ja, wie im Wohnhaus meines Sohnes, wenn nur ein Einzelner die Befugnis hat, für sich zu entscheide­n, weiterhin zu arbeiten. Damit potenziert sich die Wahrschein­lichkeit eines Infektions­geschehens“, sagt Schumacher.

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FOTO: HAUS FREUDENBER­G Die Werkstätte Haus Freudenber­g bei Kleve.

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