Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Gedenkfeier mit mehreren Premieren
Hochrangige Vertreter des Staates haben mit dem Parlament der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945 gedacht.
BERLIN Charlotte Knobloch ringt mehrfach mit den Tränen. Mit belegter Stimme erzählt sie davon, wie sie als junges Mädchen ein Schild las, das ihr als Jüdin das Spielen auf dem Hof untersagte. Und sie so die erste Begegnung „mit dem Anderssein“gehabt habe. Wie sie als Kind den Hass der Menschen zu spüren bekam. Sie erzählt davon, wie die Familie zerrissen wurde, die Großmutter in einen Zug ins KZ Theresienstadt steigen musste, wie sie sich verstecken konnte und mit welcher Abneigung sie nach dem Ende des nationalsozialistischen Staatsterrors in ihre Heimatstadt München zurückkehrte – an der Seite ihres Vaters, der ebenfalls überlebt hatte.
In ihrer bewegenden Rede stimmt die 88-Jährige bei der Holocaust-gedenkfeier im Deutschen Bundestag am Mittwoch zugleich versöhnliche Töne an. Die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland sagt im Plenum vor Abgeordneten und den ranghöchsten Staatsvertretern, sie stehe als stolze Deutsche vor ihnen. Ihr Vater habe ihr die Liebe zu Deutschland beigebracht. Man könne stolz sein auf die Demokratie der Bundesrepublik. Und zugleich mahnt Knobloch, die Demokratie müsse noch wehrhafter sein.
Explizit wendet sie sich an die Afd-fraktion: „Ich kann nicht so tun, als kümmerte es mich nicht, dass Sie hier sitzen.“Sie wolle zwar kein pauschales Urteil über die AFD fällen, betont Knobloch: „Vielleicht ist die eine oder andere noch bereit zu erkennen, an welche Traditionen da angeknüpft wird.“Den „Übrigen in Ihrer Bewegung“sage sie aber: „Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen – und ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren.“Es ist der Moment, in dem sie besonders viel Applaus bekommt. Unter den Zuhörern im Plenum befanden sich auch Bundespräsident Frank-walter Steinmeier (SPD), Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU).
Dass neben Knobloch mit Marina Weisband eine zweite Frau als Hauptrednerin auftritt, ist eine Premiere bei der Gedenkstunde, die jährlich am 27. Januar an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 durch die Rote Armee erinnert. Die 33-jährige Weisband vertritt die junge Generation jüdischer Staatsbürger, die dritte Generation nach der Schoah. Die Publizistin und Grünen-politikerin wurde 1987 in der Ukraine geboren, wanderte Anfang der 90er-jahre nach Deutschland ein. Weisband berichtet davon, dass es für Juden und Jüdinnen in Deutschland auch heute fast unmöglich sei, „einfach nur Menschen“zu sein. Sie müssten aus Sicherheitsgründen ihr Jüdischsein verstecken: „Einfach nur Mensch zu sein ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt.“Es sei „gefährlich, sichtbar zu sein“. Auch Knobloch berichtet, dass Freunde und Bekannte angesichts zunehmender antisemitischer Taten laut über Auswanderung nachdenken würden.
Schäuble erinnert an das Attentat von Halle und an die Verbindung von historischem Gedenken und der
Verantwortung für den laufenden Kampf gegen Antisemitismus. Das Gedenken gelte an diesem Tag den europäischen Juden, den Sinti und Roma, den slawischen Völkern, den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, den Kriegsgefangenen und allen dem Hungertod Ausgelieferten, so Schäuble. Gedacht werde zudem der aus politischen Gründen oder religiösen Motiven Verfolgten und Ermordeten sowie all jenen, „die sich mutig dem Ns-regime widersetzten, die ihre Menschlichkeit bewahrten und das mit dem Leben bezahlten“. Schäuble erinnert an das „Leid von Homosexuellen, an die Menschen mit Behinderungen und an das Schicksal der als ‚Asoziale‘ Ausgestoßenen“. Und zugleich erinnert er an die lange Tradition jüdischen Lebens in Deutschland.
Genau 1700 Jahre ist diese nun alt, sie begann am Rhein. Und so gibt es an diesem Gedenktag eine weitere Premiere im Bundestag: Im Beisein der Verfassungsorgane vervollständigt ein sogenannter Sofer, ein Schreiber, im Andachtsraum des Bundestags die Torarolle aus Sulzbach in der Oberpfalz, eine der ältesten Torarollen Deutschlands, mit den letzten acht Buchstaben. Die heilige Schrift, die in einem Versteck die Ns-zeit überdauerte und 2015 wiederentdeckt worden war, wurde mit Unterstützung des Bundes aufwendig restauriert und soll künftig in der jüdischen Gemeinde in Amberg wieder für Gottesdienste verwendet werden.
Charlotte Knobloch nimmt diese Fortsetzung jüdischer Traditionen und das friedliche Zusammenleben der Religionen zum Ende ihrer Rede in den Blick. Besonders an junge Menschen appelliert sie: „Lasst euch von niemandem sagen, wen ihr zu lieben und zu hassen habt.“Der Applaus ist lang anhaltend. Auch von Teilen der Afd-fraktion.