Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Putins Angst vor Nawalnys Anhängern
In zahlreichen russischen Städten gehen die Sicherheitskräfte erneut gegen Menschen vor, die die Freilassung des prominentesten Regimekritikers fordern. Die Kritik im Ausland wächst.
MOSKAU/BERLIN Ungeachtet Tausender Festnahmen sind die Menschen auch an diesem Wochenende wieder in zahlreichen russischen Städten auf die Straße gegangen. Die Behörden reagierten erneut mit Gewalt. Nach unbestätigten Angaben sollen mehr als 4000 Festnahmen erfolgt sein – darunter Julia Nawalnaja, die Ehefrau des verhafteten Putin-kritikers Alexej Nawalny. Demonstrationen für die Freilassung Nawalnys wurden auch aus anderen europäischen Städten gemeldet – in Deutschland zum Beispiel aus Berlin und Düsseldorf.
Nachdem er sich fünf Monate lang in Deutschland von den Folgen eines Giftanschlags erholt hatte, war Nawalny vor zwei Wochen unmittelbar nach der Landung an einem Moskauer Flughafen verhaftet worden. Im Eilverfahren hatte die Justiz ihn zu 30 Tagen Haft verurteilt. An diesem Dienstag soll es eine weitere Anhörung geben. Dabei droht ihm die Umwandlung seiner Bewährungsstrafe aus dem Jahr 2014 in eine mehrjährige Haftstrafe. Nawalny beschuldigte den Kreml, hinter dem Giftanschlag zu stehen. Mit einer Enthüllung über einen angeblichen Luxuspalast Putins gab das Nawalny-team der Kritik an Putin neue Nahrung.
Nach Darstellung von Menschenrechtsgruppen kam es in rund 100 russischen Städten zu Protesten. Auch durch massive Polizeipräsenz und arktische Temperaturen ließen sich die Menschen nicht abhalten, für die Freilassung Nawalnys zu demonstrieren. Zuvor hatten die Behörden alle Demonstrationen verboten. In Moskau wurden U-bahn-stationen geschlossen, um die Massen aus der Innenstadt fernzuhalten. Nach Beobachtungen von Menschenrechtlern gingen die Polizeikräfte erneut brutal gegen die Proteste vor, setzten Elektroschocker ein, pferchten die Demonstranten in enge Transportfahrzeuge und zwangen die Festgenommenen etwa in Kasan 700 Kilometer östlich von Moskau, ihre Unterwäsche auszuziehen und ihre Handys abzugeben.
„Die Bundesregierung und die europäischen Regierungen stehen in der Pflicht, die Menschenrechtsverletzungen in Russland zu benennen und sich mit allen friedlich Protestierenden solidarisch zu zeigen“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen, unserer Redaktion. Zudem müsse der Ministerrat des Europarats, dem Russland angehört, die Verhaftung Nawalnys als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention rügen. Nach
Einschätzung des Cdu-außenexperten ist in der Person Nawalnys Präsident Wladimir Putin erstmals eine ernsthafte Bedrohung seiner Macht entstanden. „Seine Furchtlosigkeit, seine unbedingte Entschlossenheit und sein Angriff auf die Korruption im System Putin haben ihn zu einem Helden des Volkes gemacht“, erklärte Röttgen.
Außenamtsstaatsminister Michael Roth (SPD) sieht das deutsch-russische Verhältnis derzeit auf einem Tiefpunkt. Im Umgang mit Nawalny zeige Moskau in zynischer Weise, dass es die Idee politischer Freiheit als akute Bedrohung seines Herrschaftssystems begreife, schrieb Roth im „Spiegel“.
Nach Ansicht von Fdp-fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff ist Nawalny zum zweitwichtigsten Mann in Russland und zum wichtigsten Oppositionellen des Landes geworden. „Metrolinien werden stillgelegt, Stadtviertel abgeriegelt, Bahnhöfe geschlossen, Polizisten zu Tausenden in Stellung gebracht – die übernervöse Reaktion der russischen Führung auf die Proteste für Nawalny zeigt, dass Präsident Putin vor den wegweisenden russischen Parlamentswahlen im Herbst um seine Autorität fürchtet“, sagte Lambsdorff unserer Redaktion. Die Stimme der russischen Opposition sei so laut wie seit Jahren nicht mehr, obwohl es für die demokratischen Kräfte in Russland inzwischen fast unmöglich sei, sich ohne Gefahr politisch zu betätigen. Deshalb sei es umso wichtiger, dass sich Deutschland und die europäischen Partner
gegenüber Moskau mit Nachdruck für die sofortige Freilassung Nawalnys einsetzten.
Die Vize-fraktionschefin der Grünen, Agnieszka Brugger, nannte es beeindruckend, mit wie viel Mut die Menschen für Mitbestimmung und gegen das Regime protestieren. Viele von ihnen demonstrierten zum ersten Mal, der Unmut wachse von Tag zu Tag. Die Bundesregierung müsse die russische Zivilgesellschaft stärker unterstützen und „ihren Kurs des Wegduckens beenden“, forderte sie. Statt echte Konsequenzen zu ziehen, halte die Regierung am deutsch-russischen Prestigeprojekt Nord Stream 2 fest. Dieses Projekt sei nicht nur eine Wette gegen den Klimaschutz und ein Affront gegenüber europäischen Partnern, sondern auch mit Blick auf Menschenrechte und Sicherheitsinteressen ein Projekt, das schon lange hätte gestoppt werden müssen.