Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Zahlen, Daten, Fragezeichen
MEINUNG Der Start der Impfkampagne ist missglückt, allen Beschönigungsversuchen der CDU zum Trotz. Sie droht, ihre Kernklientel zu vergessen. Die scheitert gerade daran, Termine zu bekommen und zum Impfzentrum zu fahren.
Manchmal in diesen Tagen, da fühlt man sich, als versuche man im „Haus, das Verrückte macht“an den Passierschein A38 zu gelangen. In der Episode „Asterix erobert Rom“will Julius Cäsar überprüfen, ob die Gallier wirklich Kräfte besitzen wie die Götter. Und zu den Aufgaben gehört, in besagtem Haus besagten Passierschein zu bekommen. „Das ist ja nur eine verwaltungstechnische Formalität“, glaubt Asterix.
Aber wen Obelix und Asterix auch fragen, der Schein mit der Nummer A38 liegt in weiter Ferne. Der Pförtner antwortet: „Eintragung einer Galeere? Da sind Sie hier falsch, da müssen Sie zur Hafenkommandantur im Hafen.“Sie jagen von Korridor zu Korridor, von Schalter zu Schalter, und drohen durchzudrehen.
Wer sich auf den Weg macht, zu verstehen, was da gerade geschieht, inmitten der größten Impfkampagne der Geschichte der Bundesrepublik, der kann sich gelegentlich bloß in solche Vergleiche retten. Galgenhumor, könnte man das nennen. Aber für Gelächter gibt es keinen Anlass.
Seit einer Woche können Bürger, die 80 Jahre oder älter sind, versuchen, einen Termin im Impfzentrum zu vereinbaren. Die Betonung liegt auf dem Wort: versuchen. Denn die Senioren scheitern oftmals an belegten Telefonleitungen, überlasteten Servern und, vor allem, kaum verfügbaren Terminen.
Wie viele der rund 36.000 Menschen, die geimpft werden sollen, bereits einen Termin vereinbaren konnten, wie viele es probiert haben, wie viele gescheitert sind – mit diesen Zahlen könnte man die Situation besser beleuchten. Doch sie liegen im Verborgenen. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KV) wertet nach eigener Angabe die Daten noch aus. Seit nunmehr einer Woche.
Wie viele der rund 460.000 Bürger, die im Kreis Wesel leben, bereits gegen das Coronavirus geimpft wurden, wie viele von ihnen die erste und wie viele bereits die zweite Dosis verabreicht bekommen haben – auch diese Information wäre hilfreich. Doch auch dies ist, leider, schleierhaft. Die KV wertet derzeit – ganz genau – die Daten noch aus.
Zur Beurteilung der Frage, ob der Start des Impfens gelungen ist, wie Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) behauptete, wären ein paar Fakten nicht schlecht. Aber auf kommunaler Ebene gilt: Zahlen, Daten, Fragezeichen. Von nichts Genauem weiß man nicht.
Auch der Kreis Wesel kann oder will in dieses Dunkel kein Licht bringen. Immerhin, so hätte man annehmen können, sollte auch das Gesundheitsamt wissen, wie viele Bürger bereits immunisiert worden sind. Aber selbst wenn das so ist, erhält die Öffentlichkeit davon keine Kenntnis.
Auf mehrfache Nachfrage antwortet die Pressestelle des Kreises schriftlich dies: „Die Dokumentation wird von der KV durchgeführt, nur dort liegen die exakten Zahlen über durchgeführte Verimpfungen vor. Die Kreisverwaltung hat keinen Zugriff auf diese Dokumentation. Aus eigenen Erkenntnissen schreibt die Kreisverwaltung eine eigene, interne Liste über das Impfgeschehen in Senioreneinrichtungen fort, die aber keinen offiziellen Charakter hat und lediglich dazu dient, dass wir einen Überblick über das Impfgeschehen haben.“Diesen Überblick behält der Kreis lieber für sich.
In der täglichen Arbeit eines Journalisten, der über den Fortschritt der Schnecke namens Impfungen berichten will, geht es oftmals so zu. Der Kreis zeigt auf die KV, die KV zeigt auf den Kreis, die KV zeigt auf das Land, der Kreis zeigt auf das Land, das Land zeigt auf die KV, das Land zeigt auf den Kreis. Einen Passierschein A38? Da müssen Sie zum Hafen.
Das alles ist, wie gesagt, überhaupt nicht lustig. Mit den Impfungen soll das Sterben enden, das Leid aufhören, und die Freiheit wiederkehren. Aber der deutsche Staat präsentiert sich in diesen Tagen von einer Seite, die verblüffend unprofessionell wirkt.
Das Chaos, von dem man vielleicht in der Staatskanzlei am Mannesmannufer in Düsseldorf wenig mitbekommt, aber zwischen Sonsbeck und Dinslaken sehr wohl, ist unmittelbar auf fehlende Verantwortung zurückzuführen. Die KV ist offensichtlich mit der Mammutaufgabe überfordert. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das in mancher Amtsstube nicht ganz ungern beobachtet wird. Seht, die bekommen es nicht hin.
Die Verantwortlichkeiten in diesem Projekt sind so wirr, so abstrakt, so lebensfern, dass im Ergebnis niemand die Verantwortung trägt. Alle Beteiligten verstecken sich mehr schlecht als recht hinter ihren Aufgaben. So, als seien alle anderen Aufgaben die Probleme von sonst wem. Tatsächlich aber sind es die Probleme von allen. Scheitert die KV, scheitert der Kreis, scheitert das Land, scheitert der Bund, scheitert die EU, dann scheitern wir alle.
Wenn keiner Verantwortung übernimmt, ist das ein ziemlich großes Ärgernis. Erstens funktioniert es dann nicht, und zweitens gibt es niemanden, der dafür verantwortlich wäre. In einem Rechtsstaat ist der zweite Punkt nicht zu unterschätzen. Dazu gehört auch die Intransparenz, mit der die Impfkampagne betrieben wird. Wie kann es sein, dass einem niemand sagen kann, wie viele im Kreis Wesel einen Impftermin haben, wie viele bereits geimpft sind?
Eine entscheidende Rolle in dieser Frage nimmt die CDU ein, ausgerechnet. Seit einem Jahr profitiert die letzte verbliebene Volkspartei (Eigenbezeichnung) in Umfragen von der Corona-krise. Viele Bürger fühlten sich gerade zu Beginn gut in den Händen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Kanzlerin Angela Merkel aufgehoben. Doch die Partei droht ihre Kernklientel zu vergessen.
Mit dem Impetus der Gerechten stellten sich Christdemokraten aller Ebenen in der vergangenen Woche hin und verkündeten, wie gut es sei, dass Nrw-landesweit schon über 471.000 Impftermine vereinbart worden sind (Erst- und Zweitimpfungen addiert). Allen Unkenrufen zum Trotz mache man große Fortschritte bei Impfungen und Terminvergabe, hörte man. Wer über Fernseher, Radiogerät oder Internetanschluss verfügt, muss sich über derartige Aussagen wundern.
Die CDU brüstet sich seit jeher damit, die Landbevölkerung zu vertreten. Während Grüne, FDP und zunehmend auch die SPD im Bund auf urbaneres, akademischeres Publikum setzt, standen die Christdemokraten fest an der Seite der vermeintlichen Provinz. Aber nun verliert sie allmählich das Gefühl für die Stimmung ihrer Wähler.
Die sitzen nämlich in ihren Wohnzimmern, tippen sich auf ihren Telefonen die Finger wund. Hängen Stunden um Stunden in irgendwelchen Warteschleifen, wissen dann nicht mehr genau, für welche Antwortmöglichkeit sie nun die „1“und für welche sie die „2“drücken sollten – und fliegen aus der Leitung. Versuchen Sie es ein anderes Mal wieder. Vielleicht in der nächsten Pandemie. Die Impfbereitschaft steigert das alles sicher nicht.
Gewiss, manche bekommen einen Termin. Weil sie sich im Internet auskennen, weil mal jemand ans Telefon geht, weil sie fit sind, oder weil sie das Glück haben, dass Enkel oder Kinder sich kümmern. Aber wer kümmert sich um die anderen?
Während die CDU sich auf die Schultern klopft, wie geschmiert alles läuft, sitzen Senioren zu Hause und verzweifeln. An der Technik, am Impfstoffmangel – für den freilich weder KV noch Kreis etwas können –, auch an ihrer Einsamkeit.
Sollten die Senioren einen Termin bekommen haben, stehen viele immer noch vor dem Problem, wie sie zur Weseler Niederrheinhalle kommen. Der Kreis verweist auf Taxischeine und auf den öffentlichen Nahverkehr. Ein schlechter Scherz. Es sind einige Ehrenamtliche, die Hilfe anbieten. Der Staat verschanzt sich hinter Bürokratie.
Schon einmal hat das Land nicht gut ausgesehen, das war 2015, als die Zahl der Flüchtlinge den Staat zunächst überforderte. Es wäre nicht schlecht, wenn nun mal wieder etwas gelingt.
Der deutsche Staat präsentiert sich in diesen Tagen von einer Seite, die verblüffend unprofessionell wirkt