Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Schulpsychologin Eva Schute warnt davor, dass Homeschooling Kinder auf Dauer überfordert.
Die Schulpsychologin sagt, dass nur wenige Schüler erreicht werden, die beim Lernen auf Distanz Hilfe bräuchten.
Frau Schute, wie sehr belastet die Pandemie Schüler und Eltern?
EVA SCHUTE Die Belastungen sind auf unterschiedliche Weise hoch. Zugleich findet eine Art Funktionieren statt. Alle versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Das kennen wir auch aus anderen Krisen, die jedoch vorübergehen. Diese Krise ist ein Dauerzustand, dessen Ende nicht absehbar ist. Und je länger sie dauert, desto größer werden die Lerndefizite vor allem bei den Schülern, die mehr Unterstützung benötigen. Auf diese Weise vergrößern sich die bereits bestehenden Bildungsunterschiede.
Was sind die größten Probleme?
SCHUTE Eine große Herausforderung für viele Schüler in den weiterführenden Schulen ist die Selbstorganisation. Je nachdem, wie das Distanzlernen umgesetzt wird, kriegen sie eine große Menge an Aufgaben und müssen sich selbst strukturieren. Das klappt insbesondere bei den Jüngeren schlechter, auch weil sich die Kinder leichter ablenken lassen. Wenn die Eltern da nicht unterstützen, fällt das eine oder andere hinten runter.
Kann der Digitalisierungsschub bei der Selbstorganisation helfen?
SCHUTE Ja, darin liegt eine Chance, weil dadurch das selbstgesteuerte Lernen stärker in den Fokus rückt. Aber die Unterstützung der Eltern braucht es trotzdem, gerade bei Grundschülern. Insgesamt stellt die Situation alle Eltern vor nicht wirklich zu lösende Probleme. Was sie leisten, verdient große Anerkennung. Die Doppel- beziehungsweise Dreifachbelastung – denn der Haushalt muss ja auch gemacht werden – ist eine große Herausforderung.
Wie stark sollen Eltern eingreifen?
SCHUTE Schon Grundschüler sollten lernen, dass sie dafür verantwortlich sind, ihre Hausaufgaben zu machen. Wenn sich zeigt, dass ein Kind das noch nicht verstanden hat, ist es wichtig, Kontakt zu den Lehrern aufzunehmen. So wird ein Teil der Verantwortung an die Lehrkraft zurückgegeben. Viele Eltern unterstützen ihre Kinder mit großem Einsatz, indem sie Schulbücher wälzen oder das Internet bemühen. Wenn sie an ihre Grenzen stoßen, sollten sie sich aber keinen Druck machen, weil der sich dann bei den Kindern niederschlägt. Gerade bei Kindern mit besonderem Förderbedarf ist es wichtig, Felder aufzuzeigen, in denen sie erfolgreich sein können – vielleicht auch draußen beim Fußballspielen.
Fehlt nicht auch ein geregelter Tagesablauf?
SCHUTE Die Strukturierung, die
Kinder durch die Schule haben, ist weg – Aufstehen, Unterricht, Pausen und sozialer Austausch. Es muss eine ganz neue Struktur aufgebaut werden. Eine Lehrerin berichtete mir von älteren Schülern, 16 Jahre alt, die das Bett kaum noch verlassen und ständig online sind, aus Sorge, etwas zu verpassen. Dadurch gelingt es kaum, auch einmal Abstand zur Schule zu gewinnen. Es fehlt auch die Bewegung, und nicht zuletzt leidet die Schlafqualität, wenn alles im Bett stattfindet.
Wie gehen Jugendliche insgesamt mit der Situation um?
SCHUTE Jugendliche sind in einer Phase, in der sie sich eigentlich von zu Hause abgrenzen. Jetzt müssen sie die ganze Zeit zu Hause sitzen. Das passt nicht zu ihrem Lebensgefühl und zu ihrer Entwicklung. Der Freiheitsdrang kann sich dann in einer ausufernden Mediennutzung zeigen. Hier ist es hilfreich, wenn jede Schule vereinbart, wann die Kommunikation ruht – und nicht spätabends noch Klausurergebnisse rundgeschickt werden. Andererseits gibt es aber auch die Tendenz, sich von einem Erklärvideo zum nächsten durchzuklicken und schließlich bei den Videos der angesagten Youtuber zu landen. Und dann sind da noch die Chats mit den Mitschülern, die auch nachts nicht stillstehen.
Vermissen Kinder die Schule?
SCHUTE Schule ist als Ort wichtig, das wird vielen jetzt besonders deutlich. Durch den Lockdown wissen viele Kinder die Schule noch einmal anders zu schätzen, möglicherweise selbst diejenigen, bei denen sonst eher der Zwangscharakter im Vordergrund stand.
Wie läuft es bei den Lehrern?
SCHUTE Das ist ganz unterschiedlich. Eine Lehrerin beschrieb, dass alles normal läuft. Ihre Schule nutzt etwa schon länger die Teams-software. Das hilft jetzt. Sie versteht sich selbst aber auch eher als Lernbegleiterin und unterstützt schon immer die Selbststeuerung ihrer Schüler. Auf der anderen Seite gibt es Lehrkräfte, die sich verzweifelt fragen, wann sie alles schaffen sollen, weil sie als Fachlehrer besonders viele Klassen unterrichten.
Nehmen psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen zu?
SCHUTE Wenn eine Veranlagung da ist, können durch zu hohen Stress psychische Störungen zum Ausdruck kommen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, bringen sich Beratungslehrer und Sozialarbeiter immer wieder in Erinnerung. Aber je länger der Lockdown dauert, desto stiller wird es. Da kommt vieles nicht bei uns an. Die Menschen richten sich in der neuen Situation ein, im Guten wie im Schlechten.
Verändert sich Mobbing durch die Pandemie?
SCHUTE Nach einer aktuellen Studie hat das Cybermobbing noch einmal zugenommen. Ein Problem ist, dass sich Mobbingopfer ohnehin oft nicht mitteilen, aus Angst davor, dass alles noch schlimmer wird. In der normalen Schulzeit besteht eher die Chance, dass Lehrkräfte registrieren, wenn sich jemand verändert. Im Distanzunterricht lässt sich die Not Einzelner aber kaum noch erkennen. Die Lehrkräfte sehen ihre Schüler nur auf dem Bildschirm. Manche Schüler schalten die Videofunktion aber auch aus, weil ihr Netz zu Hause viel zu schlecht ist. Die Distanz erschwert, um Hilfe zu bitten, aber auch zu helfen.