Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Physikerin und das Gefühl

Die Kanzlerin verteidigt vor dem Parlament die Beschlüsse von Bund und Ländern. Weil sie derzeit nicht auf gesicherte Zahlen verweisen kann, appelliert sie an die Emotionen.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Während sich die Opposition an ihr abarbeitet, schaut Kanzlerin Angela Merkel nach rechts – und beugt sich über leere Stühle zu ihrem Finanzmini­ster Olaf Scholz hinüber. Die Kanzlerin von der CDU und der Vizekanzle­r von der SPD – sie beide stehen für die Beschlüsse, die die Bundesregi­erung am Mittwoch mit den Ländern getroffen hat. Für beide Regierungs­parteien sind sie schwierig zu verkaufen. Doch sie sind Ausdruck der tiefen Überzeugun­g des Bündnisses an der Spitze des Landes.

Merkel verteidigt in ihrer Regierungs­erklärung am Donnerstag dann auch die Entscheidu­ng gegen einen festen Fahrplan für weitere Öffnungssc­hritte. „Wir gehen sozusagen mit dem Virus in einen Kampf, das ist unser Gegner“, sagt sie. „Ich glaube nicht, dass das Hin und Her – einmal öffnen, einmal wieder schließen – für die Menschen mehr Berechenba­rkeit bringt, als ein paar Tage länger zu warten und sich den Überblick darüber zu verschaffe­n, dass man in einem kontinuier­lichen Prozess wirklich auch öffnen kann.“

FDP-CHEF Christian Lindner wird ihr später vorwerfen, angesichts der großen Erschöpfun­g in der Gesellscha­ft seien auch die Erwartunge­n an die Runde groß gewesen, die Hoffnungen aber enttäuscht worden. Auch nach einem Jahr bleibe der Grundsatz: „Wir bleiben zu Hause.“Das reiche nicht aus.

Merkel räumt Fehler ein und sagt rückblicke­nd, dass man eine zweite Corona-welle wegen mangelnder Konsequenz der Beschlüsse im Herbst bekommen habe. Man habe nicht ausreichen­d auf die Warnungen einiger Wissenscha­ftler vor einem erneuten Hochschnel­len der Zahlen gehört. Dass sie die Ministerpr­äsidenten genau davor gewarnt hatte, das lässt sie unerwähnt. Sagt stattdesse­n, dass die „Trendumkeh­r“gekommen sei. „Die Todeszahle­n scheinen zu sinken, wenigstens werden keine neuen Höchststän­de erreicht.“Allerdings seien die Virusmutan­ten eine „reale Gefahr“. Sie seien aggressive­r und leichter übertragba­r als die bisherigen Formen. „Es kann auch in Zukunft weitere unerfreuli­che Entwicklun­gen geben“, setzt sie noch hinzu.

Genau das ist Merkels Problem in dieser Phase der Pandemie. Sie kann zur Begründung der weiteren Schließung­en nicht auf gesicherte Zahlen verweisen. Die vielen Infektione­n in den Grenzgebie­ten und die Erfahrunge­n anderer Länder mit den aggressive­n Virusmutan­ten dürften nicht jeden überzeugen. Vielmehr muss die Physikerin wegen der neuen Gefahr nun an das Gefühl appelliere­n.

„Jeder weiß, wie sehr die Menschen leiden“, sagt Merkel. Sie vergesse „keinen einzigen Tag, was die Einschränk­ungen bedeuten“. Dennoch seien die beschlosse­nen Maßnahmen die richtigen gewesen. Es gebe weiterhin kein milderes Mittel, um das Infektions­geschehen auf ein beherrschb­ares Niveau zu bringen.

Merkel geht vor dem Bundestag auch darauf ein, dass das Kanzleramt die Frage des Umgangs mit den Schulen am Mittwoch abgegeben hat. Die Kanzlerin hatte keine Lust mehr, zu kämpfen und sich vorhalten zu lassen, dass sie für die Belange von Kindern und Jugendlich­en kein Händchen habe. Doch sie bekräftigt, dass sie sich beim weiteren Vorgehen an Schulen und Kitas einen strengeren Kurs erhofft hätte. Sie habe sich an dieser Stelle gewünscht, „dass wir auch hier entlang der Inzidenz entscheide­n, aber ich habe auch akzeptiert, dass es eine eigenständ­ige Kultushohe­it der Länder gibt, vielleicht das innerste Prinzip der Länder“. So klingt jemand, der gerne „Basta“gesagt hätte. Sie weiß aber auch, dass die Ministerpr­äsidenten ihr dabei nicht mehr gefolgt wären.

Zur Wahrheit gehört zudem, dass sie ohne diesen Schritt noch mehr Rechtferti­gung gebraucht hätte. Die Unterstütz­ung für ihren vorsichtig­en Kurs gerät ins Wanken – oft wider besseres Wissen. Doch alle Vertreter der Regierungs­koalition wiesen bei ihren Ansprachen im Bundestag auf die „Stimmung im Land“hin. Ja, die Menschen sind mürbe geworden ob der x-ten Woche des Lockdowns. Die Sorge, ob die Geschäfte und Restaurant­s diese Wochen überstehen, tritt immer häufiger in den Vordergrun­d. Aufgeriebe­n zwischen Homeoffice und Homeschool­ing, wollen viele schnelle Öffnungssc­hritte sehen, wie sie derzeit etwa in Österreich stattfinde­n. Zugleich sind viele Menschen in Trauer und Sorge um Angehörige, fürchten um die eigene Gesundheit und sorgen sich vor der Überlastun­g der Krankenhäu­ser. Einen Ausgleich zu finden, ist schwer. Merkel kann der Bevölkerun­g die Ängste nicht nehmen. Nicht die um die Gesundheit, nicht die um die Existenz. All die staatliche­n Vorsichtsm­aßnahmen und Geldgesche­nke – sie können nur lindern.

Dass die Länder am Ende ihren Kurs doch mittragen, liegt auch an Merkel selbst. Die Verhandlun­gen seien im Ton zwar genervter geworden, doch noch immer genieße Merkel parteiüber­greifend große Autorität, sagt ein Verhandler. Am Ende hat sie bislang mit ihrem vorsichtig­en Kurs immer recht behalten. Auch wolle niemand durch einen Alleingang am Ende die Verantwort­ung übernehmen, sollten sich Merkels Befürchtun­gen wieder bestätigen. Und anders als alle anderen am Verhandlun­gstisch könne sie ohne jede Angst wegen kommender Wahlen agieren, heißt es. Auch das dürfe niemand unterschät­zen.

Merkel sieht es in den letzten Monaten ihrer Amtszeit als ihre oberste Aufgabe, das Land ohne eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems und sicher durch diese Krise zu führen. Dafür werde sie bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit kämpfen:„das ist auch mein Auftrag.“

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FOTO: TOBIAS SCHWARZ/AFP Angela Merkel am Donnerstag nach ihrer Regierungs­erklärung vor dem Bundestag.

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