Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Physikerin und das Gefühl
Die Kanzlerin verteidigt vor dem Parlament die Beschlüsse von Bund und Ländern. Weil sie derzeit nicht auf gesicherte Zahlen verweisen kann, appelliert sie an die Emotionen.
Während sich die Opposition an ihr abarbeitet, schaut Kanzlerin Angela Merkel nach rechts – und beugt sich über leere Stühle zu ihrem Finanzminister Olaf Scholz hinüber. Die Kanzlerin von der CDU und der Vizekanzler von der SPD – sie beide stehen für die Beschlüsse, die die Bundesregierung am Mittwoch mit den Ländern getroffen hat. Für beide Regierungsparteien sind sie schwierig zu verkaufen. Doch sie sind Ausdruck der tiefen Überzeugung des Bündnisses an der Spitze des Landes.
Merkel verteidigt in ihrer Regierungserklärung am Donnerstag dann auch die Entscheidung gegen einen festen Fahrplan für weitere Öffnungsschritte. „Wir gehen sozusagen mit dem Virus in einen Kampf, das ist unser Gegner“, sagt sie. „Ich glaube nicht, dass das Hin und Her – einmal öffnen, einmal wieder schließen – für die Menschen mehr Berechenbarkeit bringt, als ein paar Tage länger zu warten und sich den Überblick darüber zu verschaffen, dass man in einem kontinuierlichen Prozess wirklich auch öffnen kann.“
FDP-CHEF Christian Lindner wird ihr später vorwerfen, angesichts der großen Erschöpfung in der Gesellschaft seien auch die Erwartungen an die Runde groß gewesen, die Hoffnungen aber enttäuscht worden. Auch nach einem Jahr bleibe der Grundsatz: „Wir bleiben zu Hause.“Das reiche nicht aus.
Merkel räumt Fehler ein und sagt rückblickend, dass man eine zweite Corona-welle wegen mangelnder Konsequenz der Beschlüsse im Herbst bekommen habe. Man habe nicht ausreichend auf die Warnungen einiger Wissenschaftler vor einem erneuten Hochschnellen der Zahlen gehört. Dass sie die Ministerpräsidenten genau davor gewarnt hatte, das lässt sie unerwähnt. Sagt stattdessen, dass die „Trendumkehr“gekommen sei. „Die Todeszahlen scheinen zu sinken, wenigstens werden keine neuen Höchststände erreicht.“Allerdings seien die Virusmutanten eine „reale Gefahr“. Sie seien aggressiver und leichter übertragbar als die bisherigen Formen. „Es kann auch in Zukunft weitere unerfreuliche Entwicklungen geben“, setzt sie noch hinzu.
Genau das ist Merkels Problem in dieser Phase der Pandemie. Sie kann zur Begründung der weiteren Schließungen nicht auf gesicherte Zahlen verweisen. Die vielen Infektionen in den Grenzgebieten und die Erfahrungen anderer Länder mit den aggressiven Virusmutanten dürften nicht jeden überzeugen. Vielmehr muss die Physikerin wegen der neuen Gefahr nun an das Gefühl appellieren.
„Jeder weiß, wie sehr die Menschen leiden“, sagt Merkel. Sie vergesse „keinen einzigen Tag, was die Einschränkungen bedeuten“. Dennoch seien die beschlossenen Maßnahmen die richtigen gewesen. Es gebe weiterhin kein milderes Mittel, um das Infektionsgeschehen auf ein beherrschbares Niveau zu bringen.
Merkel geht vor dem Bundestag auch darauf ein, dass das Kanzleramt die Frage des Umgangs mit den Schulen am Mittwoch abgegeben hat. Die Kanzlerin hatte keine Lust mehr, zu kämpfen und sich vorhalten zu lassen, dass sie für die Belange von Kindern und Jugendlichen kein Händchen habe. Doch sie bekräftigt, dass sie sich beim weiteren Vorgehen an Schulen und Kitas einen strengeren Kurs erhofft hätte. Sie habe sich an dieser Stelle gewünscht, „dass wir auch hier entlang der Inzidenz entscheiden, aber ich habe auch akzeptiert, dass es eine eigenständige Kultushoheit der Länder gibt, vielleicht das innerste Prinzip der Länder“. So klingt jemand, der gerne „Basta“gesagt hätte. Sie weiß aber auch, dass die Ministerpräsidenten ihr dabei nicht mehr gefolgt wären.
Zur Wahrheit gehört zudem, dass sie ohne diesen Schritt noch mehr Rechtfertigung gebraucht hätte. Die Unterstützung für ihren vorsichtigen Kurs gerät ins Wanken – oft wider besseres Wissen. Doch alle Vertreter der Regierungskoalition wiesen bei ihren Ansprachen im Bundestag auf die „Stimmung im Land“hin. Ja, die Menschen sind mürbe geworden ob der x-ten Woche des Lockdowns. Die Sorge, ob die Geschäfte und Restaurants diese Wochen überstehen, tritt immer häufiger in den Vordergrund. Aufgerieben zwischen Homeoffice und Homeschooling, wollen viele schnelle Öffnungsschritte sehen, wie sie derzeit etwa in Österreich stattfinden. Zugleich sind viele Menschen in Trauer und Sorge um Angehörige, fürchten um die eigene Gesundheit und sorgen sich vor der Überlastung der Krankenhäuser. Einen Ausgleich zu finden, ist schwer. Merkel kann der Bevölkerung die Ängste nicht nehmen. Nicht die um die Gesundheit, nicht die um die Existenz. All die staatlichen Vorsichtsmaßnahmen und Geldgeschenke – sie können nur lindern.
Dass die Länder am Ende ihren Kurs doch mittragen, liegt auch an Merkel selbst. Die Verhandlungen seien im Ton zwar genervter geworden, doch noch immer genieße Merkel parteiübergreifend große Autorität, sagt ein Verhandler. Am Ende hat sie bislang mit ihrem vorsichtigen Kurs immer recht behalten. Auch wolle niemand durch einen Alleingang am Ende die Verantwortung übernehmen, sollten sich Merkels Befürchtungen wieder bestätigen. Und anders als alle anderen am Verhandlungstisch könne sie ohne jede Angst wegen kommender Wahlen agieren, heißt es. Auch das dürfe niemand unterschätzen.
Merkel sieht es in den letzten Monaten ihrer Amtszeit als ihre oberste Aufgabe, das Land ohne eine Überlastung des Gesundheitssystems und sicher durch diese Krise zu führen. Dafür werde sie bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit kämpfen:„das ist auch mein Auftrag.“