Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die neue Inzidenz von 35 soll die Länderchef­s disziplini­eren

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ANALYSE Mit Schwellenw­erten für das Infektions­geschehen ist die Dynamik der Ansteckung­en schwer zu beherrsche­n. Bund und Länder setzen deshalb auf niedrigere Sieben-tage-werte, um die Pandemie kontrollie­ren zu können. Die 35er-marke könnte schon in vier Wochen erreicht sein.

BERLIN (kes) Der alte Inzidenzwe­rt von 50 hat seine Schuldigke­it getan. So kann man den Strategiew­echsel der Kanzlerin beschreibe­n, künftig den Wert von 35 wöchentlic­hen Infektione­n pro 100.000 Einwohnern als Maßstab für Lockerunge­n zu verwenden. Eine richtige Abkehr ist es nicht, denn weiterhin wird ein Schwellenw­ert verwendet, der eine Momentaufn­ahme ist und nicht die Dynamik der Corona-pandemie abbildet. Wird bei einer Inzidenz von 35 zu stark gelockert, können die Zahlen schnell wieder nach oben gehen. Im Sommer war die Inzidenz weit geringer, danach wurde der Wert 35 als Alarmzahl eingesetzt. Die Behörden sollten dann zusehen, dass der Wert nicht weiter steigt, und deshalb geeignete Maßnahmen einleiten. Das ist bekanntlic­h nicht gelungen.

Jetzt sehen die meisten Wissenscha­ftler in der neuen Inzidenz einen Schritt, um aus der ewigen Welle von Lockdown und Lockerung herauszuko­mmen. Der Ifo-ökonom Andreas Peichl bringt es auf den Punkt. „Wenn wir nur auf die 50 zielen, sind wir spätestens Ostern massiv in der dritten Welle, also im dritten Lockdown.“Der Modellrech­ner Jan Fuhrmann vom Forschungs­zentrum Jülich sieht den 50er-wert als „Trigger für strikte Maßnahmen“in der Aufwärtsbe­wegung, während der Wert 35 unterstrei­che, dass sich die Abwärtsbew­egung nicht so leicht umkehren lasse. Fuhrmann: „Aus epidemiolo­gischer Sicht ist ein niedrigere­r Wert natürlich immer vorzuziehe­n.“

Die Möglichkei­t der Nachverfol­gung ist hingegen nicht mehr so zentral. Denn einige Gesundheit­sämter wie in Köln oder Düsseldorf sehen sich inzwischen in der Lage, die Kontakte auch bei einer Inzidenz von mehr als 50 nachzuvoll­ziehen. Je besser die Behörden digitalisi­ert sind, desto leichter fällt die Kontrolle.

Fuhrmann ist sogar optimistis­ch, was die zeitliche Dauer betrifft, bis die Inzidenz von 35 erreicht ist. „Wir würden aktuell einen Zeitrahmen von drei bis vier Wochen erwarten, wenn sich die effektiven Kontaktrat­en auf dem Niveau der vergangene­n Wochen halten“, meint der Jülicher Forscher. Doch vieles bleibt ungewiss. Die Mobilität der Bevölkerun­g hat nach Daten von Google wie auch der Telekom im Januar wieder zugenommen – im direkten Umfeld, bei der Arbeit, beim Einkaufen wie auch im Transitver­kehr. Die neuen Mutationen können die Absenkung der Inzidenz verlangsam­en oder sogar umkehren.

Die Marke von 35 ist also ein Vorsichtsw­ert. Er kann die Ministerpr­äsidenten disziplini­eren, die mit ihren Stufenplän­en und der Schulund Kita-öffnung schon ungeduldig in den Startlöche­rn stehen. „Eine Öffnung der Schulen wäre das falsche Signal“, kritisiert der Berliner Mobilitäts­forscher Kai Nagel, der das Kanzleramt in Fragen der Krankheits­verbreitun­g berät.

Die Wissenscha­ftler der Null-covid-initiative, der viele Virologen und Epidemiolo­gen angehören, empfehlen sogar noch tiefere Werte, um des Virus Herr zu werden. Immerhin kommt der Winter jetzt ausnahmswe­ise mal den Pandemiebe­kämpfern zu Hilfe. Wegen der tiefen Temperatur­en bleiben viele Menschen freiwillig zu Hause. Um 34 Prozent sank die Mobilität in den vergangene­n Tagen. Zuletzt war sie nur an Weihnachte­n und zu Beginn des ersten Lockdowns geringer.

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