Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Tago Mago“von Can wird 50 Jahre alt
Das Album der Kölner Band eröffnete dem Pop neue Möglichkeiten. Es inspirierte nicht nur Radiohead.
DÜSSELDORF Diese Platte ist ein Reisebericht, sie erzählt davon, wie fünf Männer aufbrechen ins Weltall und einen Planeten erreichen, den niemand zuvor betreten hat. Es ist schön dort oben, und vor allem klingt es großartig. Die Musik an diesem Ort kennt keine Zuschreibungen und Genres; Sounds fließen ineinander, alles ist durchlässig, freie Diffusion des Schalls. Der Planet heißt Tago Mago, die Klangraumfahrer nennen sich Can, und die Stücke, die sie mitbringen, revolutionieren den deutschen Pop.
Vor 50 Jahren erschien das Doppelalbum „Tago Mago“. Gruppen wie Radiohead und die Flaming Lips berufen sich auf dieses Meisterwerk, Marc Bolan von T. Rex bezeichnete es als Inspiration. In der Liste der 100 besten Alben der 70er-jahre, die das Us-magazin „Pitchfork“zusammenstellte, steht es auf Platz 29.
Dabei sah es 1971 zunächst gar nicht so aus, als könnten Can so eine mächtige Platte herausbringen: Ihr Sänger Malcolm Mooney hatte sie verlassen. Also sprachen sie vor einem Konzert in München einen Straßenmusiker an. Ob er nicht Lust habe, mit ihnen aufzutreten. Es muss ein wahnsinniger Abend in der Diskothek „Blow Up“gewesen sein, als Damo Suzuki erstmals mit Can auf die Bühne ging. Er schrie und wisperte, er flüsterte und murmelte, und er erfand eine eigene Sprache aus Deutsch, Englisch und Lautmalerei.
Der Besitzer von Schloss Nörvenich bei Köln hatte der Band das Anwesen zur Verfügung gestellt, dort nahmen Can „Tago Mago“in bis zu 16 Stunden langen Sessions auf. Sie improvisierten und editierten das Material nachträglich, organisierten es neu, schnitten es in Form. Ähnlich ging Teo Macero vor, der Produzent von Miles Davis.
Die erste Hälfte der Platte gehört Drummer Jaki Liebezeit, der „Paperhouse“und vor allem „Mushroom“unerbittlich und metallic-glänzend nach vorne trommelt. Wie ein Mantra wiederholt er seine Beat-patterns, und sein größter Auftritt ist „Halleluwah“, ein 18 Minuten langer Rausch. Dieses Stück brodelt, es ist giftig und unberechenbar. Man kann darin Glas schmelzen und Metall legieren, das ist Funk aus dem Rheinland, Voodoo aus der WG. Sie mischen das Primitive mit der Avantgarde und legen in die totale Freiheit einen Groove, der den Hörer über das für den Rock übliche Zeitverständnis hinaus führt.
Neben Suzuki und Liebezeit bildeten Irmin Schmidt und Holger Czukay die Gruppe, beide hatten bei Karlheinz Stockhausen in Köln Komposition und Musik studiert. Hinzu kam der etwas jüngere Michael Karoli an der Gitarre, der ein Faible für Beatmusik hatte. Vielleicht liegt es an dieser Gemeinschaft von Musikern aus unterschiedlichen Milieus, dass „Tago Mago“so offen anmutet. Nicht klassifizierbar, anders als alles, was man sonst in Deutschland zu hören bekam.
Can wussten wahrscheinlich selbst nicht, wohin sie wollten, als sie die Platte aufnahmen. Aber sie wussten, dass sie wegwollten, alles zurücklassen und das Neue hören. Sie schafften es, hinter die Sprache zu kommen, in der Musik damals festgelegt war. Sie ließen das Unterbewusstsein die Führung übernehmen. Und wer noch nie etwas von Can gehört hat, sollte mit dem letzten Stück des Albums beginnen. „Bring Me Coffee Or Tea“ist flirrende Nachmittagshitze. Silberne Brise, halb geschlossene Lider, drückende Müdigkeit. Dämmer, Trance und das Hinübergleiten in die Idylle des Ungeahnten.
„Tago Mago“gehört zu den Orten, die jedes Ohr gesehen haben sollte.