Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Eine Stadt im Livestream

Viele Händler in den Innenstädt­en stehen wegen des Lockdowns vor dem Ruin. Dülmen im Münsterlan­d hält mit einem Online-kanal dagegen – dort wird verkauft, aber auch gekocht und geredet. Mit einigem Erfolg.

- VON JÖRG ISRINGHAUS UND GEORG WINTERS

DÜLMEN Statt in ihr Geschäft gehen viele Einzelhänd­ler im münsterlän­dischen Dülmen derzeit lieber auf Sendung. Vor laufender Kamera verlegt ein Schreiner spezielles Laminat, stellt ein Haushaltsw­arenHändle­r Töpfe vor oder präsentier­t ein Hörgeräte-akustiker die neuesten Errungensc­haften. Allesamt keine Medienprof­is, geben sie trotzdem ihr Bestes, um auch im Lockdown ihre Waren irgendwie an die Kunden zu bringen. „Lokal at Home“heißt das Pilotproje­kt, das Harald Wehmeyer, Geschäftsf­ührer der Agentur Wehmeyer + Team, gemeinsam mit der Kaufmannsc­haft der Stadt und Unterstütz­ung von Bürgermeis­ter Carsten Hövekamp auf die Beine gestellt hat. Seit dem 16. Februar ist der Livestream online. Mit Erfolg. Wehmeyer formuliert es etwas salopper: „Die Zuschauer rennen uns die Bude ein.“

Das lokale Streaming-angebot versteht sich allerdings nicht nur als reine Online-plattform für den ortsansäss­igen Handel, wie es sie in vielen Städten schon länger gibt. Vielmehr solle der Kanal ein „Schaufenst­er für Dülmen“sein, sagt Wehmeyer, das beispielsw­eise auch Künstlern und anderen Kulturscha­ffenden, Gastronome­n und Vereinen die Möglichkei­t eröffne, sich zu präsentier­en. Im Idealfall könne „Lokal at Home“die städtische Vielfalt spiegeln, mit den Verkaufsan­geboten als Fundament.

Das Format scheint zu funktionie­ren. Vom Start weg hatte das Programm 500 Zuschauer, nach einer Woche sind es insgesamt mehr als 10.000, die im Schnitt 16 Minuten verweilen. „Das ist für unser noch begrenztes Angebot extrem lang“, sagt Wehmeyer, „und vor allem: Die Leute kaufen auch.“

Gedreht wird in einem profession­ell eingericht­eten Filmstudio, für die Umsetzung sorgt die Firma MP Veranstalt­ungstechni­k. Mittlerwei­le wurden rund zwölf Stunden Material produziert, das in Wiederholu­ngsschleif­en läuft. Dazu kommen aber auch feste Live-sendeplätz­e, etwa für eine Kochshow, eine Politikrun­de oder eine virtuelle Cocktail-nacht, bei der die Getränke bestellt und ausgeliefe­rt werden können. Natürlich lebt das alles ein wenig vom Charme des Unfertigen, hat zumindest bei der Präsentati­on manchmal etwas Amateurhaf­tes – peinlich dürfe es jedoch nicht sein, sagt Wehmeyer. Das sei eine gewisse Gratwander­ung, und es gebe teils auch Berührungs­ängste bei den Händlern. „Wir probieren aber viel, geben Hilfestell­ung und nehmen so jeden mit“, sagt er. Denn Ziel ist es, den Live-anteil zu erweitern, um noch attraktive­r zu werden.

Das Beispiel Dülmen zeigt einen Weg, wie Kommunen und Händler nach Wegen aus der Krise suchen. Die Lage im deutschen Einzelhand­el hat sich durch den zweiten Lockdown ab Dezember verschärft. „Viele Händler befinden sich in einer dramatisch­en Situation. Ohne passgenaue staatliche Unterstütz­ung und ohne Öffnungspe­rspektive werden in vielen Innenstädt­en in den kommenden Wochen die Lichter ausgehen“, sagt Stefan Genth, Hauptgesch­äftsführer des Branchenve­rbandes HDE. In einer Verbandsum­frage unter 2000 Händlern erklärten rund 60 Prozent, dass sie ohne weitere staatliche Hilfen in diesem Jahr schließen müssten. Die Branche klagt seit geraumer Zeit darüber, dass ein Großteil des staatliche­n Unterstütz­ungsangebo­ts nicht ankomme oder Händler bei den Kriterien durch den Rost fielen. Die vom Lockdown betroffene­n Händler hätten im vergangene­n Jahr im Schnitt nur 11.000 Euro Unterstütz­ung bekommen. Für viele zu wenig, um auf Dauer überleben zu können. Deshalb haben einige beschlosse­n, gegen den Lockdown zu klagen, weil sie diesen als unverhältn­ismäßig ansehen. Unter ihnen sind der Elektronik­händler Media-markt Saturn, die Baumarktke­tte Obi und das Modeuntern­ehmen Peek & Cloppenbur­g.

Wo Händler in Innenstädt­en nicht mehr weitermach­en können, droht Leerstand in beträchtli­chem Ausmaß. Deshalb hat der Deutsche Städtetag am Donnerstag Bundeshilf­en von 2,5 Milliarden Euro gefordert. Städtetags­präsident Burkhard Jung sagte: „Wir stellen uns 500 Millionen Euro jährlich für fünf Jahre vor, um nachhaltig etwas zu erreichen.“Das Geld soll unter anderem dafür genutzt werden, leerstehen­de Ladenlokal­e vorübergeh­end zu mieten, ehemalige Kaufhäuser zu erwerben und neue Innenstadt-konzepte zu entwickeln. Auf Landeseben­e laufen bereits solche Programme. In NRW beispielsw­eise hat das Bauministe­rium im vergangene­n Jahr ein Soforthilf­e-programm von 70 Millionen Euro für die Innenstädt­e aufgelegt. Das sei aber noch längst nicht genug, heißt es bei Unternehme­n und Kommunalpo­litikern.

Auch die Produktion von „Lokal at Home“kostet viel Geld. Mit rund 400 Euro schlage eine Studiostun­de zu Buche, sagt Wehmeyer. Bis zu acht Mitarbeite­r sorgen hinter den Kulissen für einen reibungslo­sen Ablauf. Ohne Hilfe von Sponsoren sei das kaum zu stemmen, auch der lokale Einzelhand­elsverband habe Anschubhil­fe geleistet. Ansonsten versuche man, so profession­ell wie möglich zu agieren, um die Vorbereitu­ngs- und Drehzeiten für die Teilnehmer so gering wie möglich zu halten. Und Wehmeyer hofft, dass er sein Konzept, das er sich hat schützen lassen, anderen Städten schmackhaf­t machen kann. Nachbarort­e haben bereits Interesse signalisie­rt, erste Gespräche mit der Bürgermeis­terin von Coesfeld sind angesetzt. Aber selbst wenn sich keine weiteren Partner finden, soll „Lokal at Home“in Dülmen weiter auf Sendung gehen. „Wir wollen das als festes lokales Portal etablieren“, sagt Wehmeyer, „auch über den Lockdown hinaus.“

„Wir wollen das als Portal etablieren – über den Lockdown hinaus“Harald Wehmeyer Geschäftsf­ührer Wehmeyer + Team

 ?? FOTOS: LUKAS SCHULZE/DPA, SCREENSHOT „LOKAL AT HOME“| MONTAGE: FERL ?? An ihren Bildschirm­en daheim können die Dülmer die Sendungen von „Lokal at Home“verfolgen.
FOTOS: LUKAS SCHULZE/DPA, SCREENSHOT „LOKAL AT HOME“| MONTAGE: FERL An ihren Bildschirm­en daheim können die Dülmer die Sendungen von „Lokal at Home“verfolgen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany