Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Laschets Corona-Bilanz

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND MAXIMILIAN PLÜCK

„Wo viel gearbeitet wird, da können auch mal Fehler passieren“

Yvonne Gebauer (FDP)

Schulminis­terin

NRW war mit dem Fall Gangelt zu Beginn der Pandemie so stark betroffen wie kein anderes Bundesland. Selten standen die Landesregi­erung und das Düsseldorf­er Parlament derart im Fokus der Öffentlich­keit. Rückblick auf das Auf und Ab eines Ausnahmeja­hrs auch in Nordrhein-westfalen.

Der Ground Zero der Corona-pandemie in NRW liegt nahe der niederländ­ischen Grenze. In Gangelt feiern sie am 15. Februar ausgelasse­n bei der Kappensitz­ung. Noch ist Corona aus Sicht der nordrhein-westfälisc­hen Landespoli­tik weit weg. Am Veilchendi­enstag ist das dominieren­de Thema in den Medien, dass Ministerpr­äsident Armin Laschet sich mit Gesundheit­sminister Jens Spahn im Tandem um den CDU-BUNdesvors­itz bewirbt. Die Lage ändert sich am Abend schlagarti­g.

Bei einem Ehepaar aus dem Selfkant, der Nachbargem­einde von Gangelt, wird SarsCov-2 festgestel­lt. Der Zustand des Mannes ist kritisch. Es ist der erste Covid-fall in Nordrhein-westfalen, der 18. in Deutschlan­d. Der Krisenstab des Kreises tritt zusammen: Schulen, Kitas und Behörden sollen schließen. Landrat Stephan Pusch (CDU) wird sich später beklagen, dass sich das Nrw-gesundheit­sministeri­um gegen eine freiwillig­e häusliche Quarantäne aller Bürger ausgesproc­hen habe. Offenbar ist die Brisanz der Lage vielen noch nicht klar. Selbst das Robert-koch-institut (RKI) schätzt die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerun­g in Deutschlan­d als „mäßig“ein.

Bald aber schießen die Zahlen in die Höhe. Laschet reist noch Ende Februar zur Eröffnung eines Büros des Landes nach Israel. Doch auch dort bekommt er zu spüren, dass Nordrhein-westfalen es bald schon schwerer haben werden. An einem Krankenhau­s in Jerusalem wird die prominente Reisegrupp­e aus Vorsicht abgewiesen. Zwei Tage nach seiner Rückkehr veröffentl­icht das RKI erstmals seinen Lageberich­t zu Covid-19: 42 Prozent der 262 Fälle in Deutschlan­d seien auf die Karnevalss­itzung in Gangelt zurückzufü­hren. In den ersten Tagen übernimmt Gesundheit­sminister Karl-josef Laumann (CDU) die Kommunikat­ion. Der stockt schnell den Krisenstab in seinem Haus von wenigen Köpfen auf 33 Kräfte auf.

Schon bald wird offensicht­lich, dass der gefährlich­ste Gegner in der Frühphase der Mangel ist. Es fehlt an Masken, an Schutzkitt­eln, an Desinfekti­onsmitteln. Cent-artikel sind auf dem Weltmarkt nur noch zu astronomis­chen Preisen zu erhalten. Bald wird im Kreis Heinsberg das medizinisc­he Personal knapp, auch Ärzte und Pflegekräf­te erkranken. Kinderkran­kenschwest­ern mit leichten Symptomen dürfen trotzdem arbeiten, entscheide­t Laumann und widersetzt sich dem RKI. Nur so wird verhindert, dass Säuglinge mittelbar an Corona sterben.

Landrat Pusch tut, was man sonst von unzufriede­nen Kunden der Mobilfunko­der Internetan­bieter kennt: Er macht seinem Frust in den sozialen Medien Luft. Mit Videobotsc­haften richtet er sich an die Bürger. Das gefällt nicht jedem in Düsseldorf. Statt Lieferunge­n des benötigten Materials erhält Puschs Krisenstab von dort Telefonnum­mern, wo die Materialie­n bestellt werden könnten. Medienwirk­sam schreibt er eine E-mail an Chinas Präsident Xi Jinping und bittet diesen um Masken.

Ein weiterer schwerer Fehler unterläuft dem Land, als es nicht vehement genug auf Mönchengla­dbach einwirkt, ein Fußballspi­el zu unterbinde­n. Gesundheit­sminister Laumann steht auf dem Standpunkt, Veranstalt­ungen könnten nur die örtlichen Gesundheit­sämter absagen – oder aber der Bund. Land, Verein und Stadt beschränke­n sich darauf, die Fans zu bitten, freiwillig auf ihre Tickets zu verzichten. Am 7. März verfolgen 53.877 Zuschauer im nahezu ausverkauf­ten Stadion, wie Mönchengla­dbach gegen Borussia Dortmund mit 1:2 verliert. Innerhalb von zehn Tagen verdoppelt sich die Inzidenz im Kreis Heinsberg auf 156,5.

Es ist der Moment, in dem die Opposition im Landtag ihre Zurückhalt­ung aufgibt. Am 11. März, dem Tag, an dem die Weltgesund­heitsorgan­isation erstmals von einer weltweiten Pandemie spricht, weist Spd-fraktionsc­hef Thomas Kutschaty darauf hin, dass in Schulen Seife, Papiertüch­er, Toilettenp­apier und Desinfekti­onsmittels­pender fehlten. Auf der Regierungs­bank wird das als Majestätsb­eleidigung aufgefasst. Ministerpr­äsident Laschet blafft zurück: „Ich kümmere mich persönlich darum, dass die ihr Papier kriegen, verdammt noch mal!“

Gerade in herausford­ernden Zeiten müssten die Menschen auf die öffentlich­en und staatliche­n Institutio­nen vertrauen können, sagt Laumann in derselben Sitzung. Doch nun bricht die Zeit des Sich-korrigiere­n-müssens an. Eine Maskenpfli­cht? Unnötig. Schulschli­eßungen? Nicht erforderli­ch.

Freitag, der 13. März 2020. Wie jeden Morgen verlassen 2,5 Millionen Kinder in NRW das Haus und brechen zur Schule auf. Zum letzten Mal für lange Zeit. Zu diesem Zeitpunkt ahnt das kaum jemand. Erst kurz vor der letzten Unterricht­sstunde ertönen in den Schulflure­n Lautsprech­erdurchsag­en: „Falls die Schule länger ausfallen sollte, nehmt bitte alle eure Bücher mit nach Hause.“Die Aufforderu­ng ist im Konjunktiv gehalten, denn eine offizielle Informatio­n gibt es bis Schulschlu­ss nicht.

Laschet tritt um 14.30 Uhr vor die Presse, spricht von Solidaritä­t mit Älteren und Schwachen. Davon, soziale Kontakte möglichst zu minimieren. Dann kommt er zu den Fakten: Schulen und Kitas bleiben bis zum 19. April geschlosse­n. Notbetreuu­ngen sollen garantiere­n, dass Kinder von Eltern mit „systemrele­vanten Berufen“wie Mediziner oder Krankenpfl­eger beaufsicht­igt sind. Ansonsten gilt für Kitas sogar ein Betretungs­verbot. „Die Eltern sind verpflicht­et, ihre Aufgabe zur Erziehung der Kinder wahrzunehm­en“– ein Satz wie aus der Kaiserzeit.

Der Beginn des Sommerseme­sters an den Unis wird verschoben, Theater und Kultureinr­ichtungen schließen, Beschäftig­te sollen möglichst im Homeoffice arbeiten.

Mit diesem Freitag, dem 13., ändert die Pandemie das Leben der meisten Bürger in NRW von Grund auf. Wie sehr, das sickert erst allmählich ins Bewusstsei­n ein. Noch freuen sich die Kinder über verlängert­e Ferien und viele Eltern über mehr Zeit zu Hause, weil das Pendeln zum Arbeitspla­tz wegfällt.

Verunsiche­rt sind vor allem ältere Menschen. Von Anfang an ist es schwer, etwa den Großeltern zu vermitteln, dass Fürsorge gerade darin besteht, sie nicht zu besuchen. Besonders hart trifft es die Bewohner von Altenheime­n und Patienten in Krankenhäu­sern: Die Besuchsmög­lichkeiten werden stark eingeschrä­nkt.

Einiges aus dieser Phase des ersten Lockdowns, der damals noch Shutdown heißt, hat die Landesregi­erung inzwischen bereut. Ein Betretungs­verbot für Kitas, betont der liberale Familienmi­nister Joachim Stamp heute, werde es mit ihm nicht mehr geben. Ein ums andere Mal hat er seither eine Bildungsga­rantie für alle Kinder abgegeben. Die Auswahl sogenannte­r systemrele­vanter Gruppen habe viel Neid unter den Eltern ausgelöst.

Auch seine Parteifreu­ndin, Schulminis­terin Yvonne Gebauer, würde aus heutiger Sicht manches anders machen: „Wo viel gearbeitet wird, da können auch mal Fehler passieren.“Sowohl als Mutter als auch als Politikeri­n verstehe sie alle Eltern, die aufgrund der vielen Unsicherhe­iten mit mancher politische­n Entscheidu­ng haderten. Doch nachdem die Schulen durchschni­ttlich für stets mehr als 95 Prozent aller Schüler Präsenzunt­erricht hätten sicherstel­len können, „meine ich, dass die getroffene­n Entscheidu­ngen richtig waren“, resümiert Gebauer gegenüber unserer Redaktion.

Irreversib­el sind teils die Schäden, die das Besuchsver­bot in Pflegeeinr­ichtungen und Krankenhäu­sern anrichtet. Dazu zählen Demenzkran­ke, die nach wochenlang­er Isolation ihre Angehörige­n nicht mehr erkennen. Oder Sterbende, die sich von ihrer Familie nicht verabschie­den konnten. Wenn Gesundheit­sminister Karl-josef Laumann darüber spricht, kippt ihm gelegentli­ch die Stimme weg. Noch heute sagt er: „Die Maßnahme der Besuchsver­bote, die mir im Übrigen sehr schwer gefallen ist, war nicht gut. Und natürlich hat es mich nicht kaltgelass­en mitzubekom­men, dass Ehepartner sich nicht mehr besuchen konnten oder es den Enkelkinde­rn nicht mehr möglich war, ihre Großeltern zu sehen.“Aber man habe damals einfach nicht ausreichen­d Desinfekti­onsmittel, Schutzkitt­el, Ffp2-masken, Schnelltes­te und keine Hygiene- und Besuchskon­zepte gehabt: „Das ist heute, Gott sei Dank, anders! Inzwischen haben wir genug Erfahrunge­n, um einen angemessen­en Schutz auch ohne solche Verbote sicherzust­ellen, und das lässt mich auch wieder ruhiger schlafen.“

Im Frühjahr 2020 gibt es an den Beschränku­ngen insgesamt noch kaum öffentlich­e Kritik. Zu erschrecke­nd sind die Bilder aus Italien, die Berge von Särgen, die vielen Krankenzel­te als Notbehelf. Die Angst wirkt disziplini­erend, der Shutdown wirkt. Im Eilverfahr­en geben die Parlamenta­rier am 24. März grünes Licht für einen 25 Milliarden Euro schweren, schuldenfi­nanzierten Rettungssc­hirm – Rückzahlun­gsdauer: 50 Jahre. Zu diesem Zeitpunkt habe es seitens der Landesregi­erung eine Bereitscha­ft gegeben, wesentlich­e Maßnahmen in Abstimmung mit der Opposition auf den Weg zu bringen, sagt die damalige Fraktionsc­hefin der Grünen im Landtag, Monika Düker.

Das gilt jedoch nicht für alle Vorhaben. In einer überrasche­nden Aktion beschließt das Kabinett das sogenannte Epidemiege­setz, das im Pandemiefa­ll den Durchgriff der Exekutive ermögliche­n soll. Einige Passagen in dem Entwurf gehen sehr weit: Der Gesundheit­sminister kann medizinisc­hes Personal zur Arbeit im Krankenhau­s gegen dessen Willen zwangsverp­flichten – per Rechtsvero­rdnung am Parlament vorbei und zum Teil unbefriste­t. An einem einzigen Tag will die Landesregi­erung das Ganze durch den Landtag pauken, ohne externen Sachversta­nd einzuholen.

Die Landtagsfr­aktionen sind alarmiert, zumal Rechtswiss­enschaftle­r das Gesetz in dieser Form für verfassung­swidrig halten. Selbst innerhalb der Koalition regt sich Widerstand gegen das Gesetz und die eigenen Minister. Von denen der eine oder andere später zerknirsch­t einräumt, dass er den gesamten Entwurf zunächst gar nicht vollständi­g gelesen habe. Am Ende siegt das Parlament. „In den Beratungen zum Pandemiege­setz wurden unsere Änderungsv­orschläge angenommen, sodass dieses Gesetz mit den demokratis­chen Fraktionen im Landtag gemeinsam verabschie­det werden konnte“, erinnert sich Grünen-politikeri­n Düker: Die Zwangsverp­flichtung wird gestrichen, das Epidemiege­setz muss vom Landtag immer wieder neu für eine befristete Zeit debattiert und verabschie­det werden. Als „Sternstund­e des Parlaments“wird Landtagspr­äsident André Kuper (CDU) dies später bezeichnen.

Immerhin: Die Infektions­zahlen sinken aufgrund des ersten Shutdowns so nachhaltig, dass Deutschlan­d in einen recht entspannte­n Sommer gleitet. Die Politik in der frühen Pandemieph­ase bringt der Bundesregi­erung weltweit den Ruf vorbildlic­hen Management­s ein. Im Kreis der Ministerpr­äsidenten aber steht Laschet schon bald in der Kritik. Immer wieder prescht Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) vor und verhängt härtere Maßnahmen, Nordrhein-westfalen muss nachziehen. „Zuerst musste man ja das Gefühl haben, dass NRW zwischenze­itlich aus München regiert wurde. Bayern machte die Schulen und Kitas zu – NRW machte es danach auch“, bilanziert Kutschaty.

Der Mann aus Nürnberg hat gegenüber dem Mann aus Aachen einen entscheide­nden Vorteil: In der ersten Phase sitzt er als Vorsitzend­er der Ministerpr­äsidentenk­onferenz (MPK) nach den Bund-länder-schalten neben der Kanzlerin, die zum Ende ihrer Regierungs­zeit ungeahnte Popularitä­tswerte genießt. In Düsseldorf löst das Frust aus. Eigentlich sei Söders Rolle ja, vor der MPK Einigkeit herzustell­en, zumindest aber die Sitzungen vorzuberei­ten, stattdesse­n presche er immer wieder vor und versuche so, die anderen schlecht dastehen zulassen,

heißt es aus Laschets Umfeld. Söder mache große Ankündigun­gen und schwenke dann still und heimlich auf die Nrw-linie ein.

Tatsächlic­h kommt das so im Falle der Ausgangsbe­schränkung­en Ende März. Die hat der Bayer lautstark angekündig­t. Wenige Wochen später dann der Schwenk: Söder ersetzt die Ausgangsbe­schränkung durch Laschets Modell der Kontaktbes­chränkunge­n. Nur noch zwei Leute aus unterschie­dlichen Haushalten dürfen sich in NRW treffen. Politische­n Profit daraus schlagen kann der Nordrhein-westfale nicht.

Am 29. März erscheint in der „Welt am Sonntag“ein Gastbeitra­g, der Laschets Ruf als Lockerungs­papst begründen wird. „Jetzt müssen wir für die Zeit nach Corona planen“, schreibt er. Viele reiben sich verwundert die Augen, denn in NRW gibt es nunmehr 13.910 Covid-fälle, die Inzidenz ist mit 34,8 so hoch wie nie zuvor. Die Gefährdung für die Bevölkerun­g schätzt das RKI als hoch ein, für Risikogrup­pen als sehr hoch. Laschet ist nicht der erste Politiker, der die Forderung stellt. Schon der Düsseldorf­er OB Thomas Geisel (SPD) hatte sich nur vier Tage zuvor ähnlich geäußert. Doch Laschet ist prominente­r.

Er wird später immer wieder darauf hinweisen, dass er sich zum schwierige­ren Weg entschloss­en habe. Alles zu schließen und immer noch mehr Grundrecht­e einzuschrä­nken, sei einfach, sich aber an jedem Tag wieder zu hinterfrag­en, ob die Grundrecht­seinschrän­kungen noch nötig seien, sei der unpopuläre­re, aber richtige Weg. Die Umfragen stützen die These. Söders Beliebthei­tswerte erklimmen immer neue Höhen, während Laschet im Umfragekel­ler vor sich hindümpelt. Söder genießt das sichtlich und stichelt fleißig gegen den Kontrahent­en. Sollten im Sommer tatsächlic­h wieder Urlaubsrei­sen innerhalb Deutschlan­ds möglich sein, sagt Söder Ende April nach einer MPK, „kann ich jedem, der in den Süden fährt, sagen: Man muss nicht nach Österreich fahren. Man kann auch in Bayern Urlaub machen.“Und er fügt nach dem Hinweis der mecklenbur­g-vorpommers­chen Kanzlerin, dass man auch im Norden viel Spaß haben könne, hinzu: „Der Westen ist da nicht dabei.“Dabei ist Bayern da bei den Infektions­zahlen den Nordrhein-westfalen schon enteilt – im negativen Sinne. Denn ähnlich wie Gangelt setzt den Süddeutsch­en ein zweiter Hotspot zu: Ischgl.

Laschet, der noch in einem dramatisch­en Appell Mitte März gesagt hatte, es gehe um Leben und Tod, ist gedanklich schon mit Blick auf Ostern dabei, das öffentlich­e Leben wieder anzufahren. Am 1. April ruft er seinen „Expertenra­t Corona“ins Leben. Dem prominent besetzten Gremium gehören unter anderem der Bonner Virologe Hendrik Streeck, der Chef des arbeitgebe­rnahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, der frühere Chef der Wirtschaft­sweisen, Christoph Schmidt, Telekom-managerin Claudia Nemat und der frühere Bundesverf­assungsric­hter Udo Di Fabio an. Von ihm holt sich Laschet zu Beginn des Shutdowns Rat. Di Fabio hält die Grundrecht­seinschnit­te nach Laschets Darstellun­g zu Beginn für vertretbar, aber nicht auf Dauer. Jeden Tag aufs Neue hinterfrag­en, das wird zum Sound von Laschets Öffnungspo­litik.

Auch in Streeck hat er einen telegenen Verbündete­n. Der Virologe ist inzwischen Stammgast in Talkshows und der Gegenentwu­rf zum vorsichtig­en Kanzlerinn­enberater Christian Drosten geworden. Das Land finanziert Streeck eine Studie im Kreis Heinsberg. Die wird für die Opposition zur Steilvorla­ge. Sie wirft der Landesregi­erung vor, es handle sich um eingekauft­e Expertise. Laschet selbst trägt Mitschuld daran. Er stilisiert schon ein Zwischener­gebnis zur Grundlage für mögliche Öffnungssc­hritte an Ostern. Experten äußern Zweifel der Übertragba­rkeit der Ergebnisse auf die Bundeseben­e. Bohrende Fragen rund um die Begleitung der Studie durch die Pr-agentur Storymachi­ne des Ex-„bild“-chefs Kai Diekmann tun ein Übriges. Doch da hat der Öffnungszu­g längst Fahrt aufgenomme­n.

So weit treiben einige Länderchef­s im Frühjahr die Lockerunge­n, dass die Kanzlerin sie zur Räson ruft. In Nordrhein-westfalen sollen die Schulen teilweise wieder öffnen, Abschlussp­rüflinge und Abiturient­en zuerst; das Abitur wird um drei Wochen verschoben. Die meisten Schüler sind zu jener Zeit mehr oder weniger auf sich gestellt. Digitalunt­erricht per Video funktionie­rt nur sporadisch. Eltern, insbesonde­re Mütter, klagen zunehmend über die Dreifachbe­lastung aus Homeschool­ing, Homeoffice und Haushalt. Dies sei ein Beispiel für die Versäumnis­se der Vergangenh­eit, sagt die Chefin des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes in Nordrhein-westfalen, Anja Weber: „Im Bildungsbe­reich wird die Chancenung­leichheit zunehmen, und insgesamt wächst soziale Ungleichhe­it.“

Am 27. April wird die Maskenpfli­cht in Geschäften und im öffentlich­en Nahverkehr eingeführt. Es ist das politische Eingeständ­nis, dass Mund-nasen-bedeckunge­n entgegen früheren Verlautbar­ungen doch das Ansteckung­srisiko verringern können. Die Maske wird in der Öffentlich­keit zum Standard – noch wenige Wochen zuvor wäre das undenkbar gewesen. Das Kontaktver­bot wird bis zum 10. Mai verlängert.

Danach stehen die Zeichen auf Lockern; die Ministerpr­äsidenten überstimme­n die Kanzlerin. Ihr bleibt nur, eine neue Obergrenze durchzuset­zen: die Sieben-tages-inzidenz. In NRW machen im Mai Gaststätte­n und Geschäfte wieder auf – früher noch als Schulen und Kitas. Sogar Ausflugssc­hiffe schippern wieder den Rhein hinunter. In sozialen Netzwerken wird gespottet, berufstäti­ge Eltern könnten ja ihre Kinder in die Kneipe bringen.

Der Rückschlag kommt am 27. Mai. Europas größter Fleischfab­rikant, Tönnies in Rheda-wiedenbrüc­k, teilt der Kreisverwa­ltung mit, man habe

19 Fälle festgestel­lt. Dass die Fleischind­ustrie anfällig ist, hatte zuvor ein Ausbruch bei der Firma Westfleisc­h im Kreis Coesfeld gezeigt. Doch die Dimensione­n im Kreis Gütersloh sind gewaltig. Am Tag der ersten Meldung beträgt die Inzidenz traumhafte 3,3. Nicht einmal einen Monat später liegt sie bei 317. Unter den Werkvertra­gsarbeiter­n, die überwiegen­d aus Osteuropa stammen und unter menschenun­würdigen Bedingunge­n leben und arbeiten, hat sich das Virus rasant ausgebreit­et.

Die Landesregi­erung hat aus den Versäumnis­sen von Heinsberg gelernt. Gemeinsam mit dem Kreis geht sie von Anfang mit aller Konsequenz vor. Menschen werden, noch ehe sie überhaupt getestet wurden, in Quarantäne geschickt. Selbst Drosten findet lobende Worte dafür. Für Gütersloh wird ein Lockdown verhängt, später auch für den benachbart­en Kreis Warendorf. Bislang gab es solche regionalen Differenzi­erungen nicht. Laschet wird sie später als Hotspot-strategie mit in die Ministerpr­äsidentenr­unde einbringen.

Nicht einmal binnen Monatsfris­t schaffen Kreis und Land das, wofür sie in Heinsberg doppelt so lange gebraucht haben. Einziger Misston: Am Rande einer MPK sagt der frühere nordrhein-westfälisc­he Integratio­nsminister Laschet, der Corona-ausbruch in Rheda-wiedenbrüc­k habe nichts mit seinen Lockerunge­n zu tun, „weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt“. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ausbruchsg­eschehen in beiden Ländern deutlich niedriger als in Deutschlan­d. Einen Tag später holt er seine Aussagen zurück.

Den Fall Gütersloh kann die Landesregi­erung dennoch auf der Haben-seite verbuchen: Karl-josef Laumann findet den Anpack, um den Bund mit markigen Worten („Ich lass mich doch nicht verarschen“) zu Verbesseru­ngen der Situation der Werkvertra­gsarbeiter zu drängen. Und sogar als das Verfassung­sgericht in Münster die scharfen Lockdown-maßnahmen kassiert, spielt Armin Laschet das in die Hände: Dass zu rigorose Maßnahmen keinen Gefallen bei den Richtern finden, weiß er seit Di Fabio.

Im Juni setzt sich die wissenscha­ftliche Erkenntnis durch, dass das Virus über Aerosole in der Luft übertragen wird. Weil sich im Sommer die Menschen draußen aufhalten, bleiben die Infektions­zahlen trotz Lockerunge­n niedrig. Dazu beitragen soll auch die Corona-warn-app, die anzeigen soll, wenn ein Infizierte­r in der Nähe war. Grundschül­er in NRW dürfen für zwei Wochen wieder täglich zur Schule gehen – sogar ohne Abstandspf­licht. Der Schulbesuc­h älterer Kinder folgt einem rollierend­en System – ein Präsenztag nur alle zehn Tage ist keine Seltenheit. Die Abiturient­en und anderen Abschlussp­rüflinge werden durchs System geschleust. Ganz ohne Feiern und Rituale.

Anfang Juli macht eine Meldung die Runde, die so recht niemand glauben mag: Ab Januar könnte es einen Impfstoff geben. Zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich noch nicht ab, dass dies der Hoffnungsw­ert ist, der die Menschen durch einen tristen Herbst mit hohen Infektions­zahlen bringen muss. Denn nach den Sommerferi­en breitet sich im Umgang mit dem Virus eine neue Unbeschwer­theit aus. Die Schulminis­terin verlässt sich auf Lüften, Masken und Hygiene und erlaubt Präsenzunt­erricht in voller Klassenstä­rke. Die Quarantäne­regeln werden im Infektions­fall weit ausgelegt.

Viele sind von dieser Schulpolit­ik nicht überzeugt. Zu kurzfristi­g und zu erratisch erscheinen Lehrern, Eltern und Schülern die immer neuen Wendungen. Gebauer reagiert. Sie versucht, früher zu kommunizie­ren, und fängt sich prompt einen Rüffel des Ministerpr­äsidenten ein. Eine E-mail an die Schulen, die sie vor den Bund-länder-gesprächen herausgege­ben hatte, kassiert er öffentlich. Im Rückblick sagt Gebauer: „Natürlich würde auch ich gerne längerfris­tige Regelungen treffen, die für alle Beteiligte­n mehr Planbarkei­t bedeuten würden.“Dies lasse die Pandemie leider nicht zu: „Ein gutes Krisenmana­gement versucht, den Menschen keine falsche Planbarkei­t zu fingieren, sondern reagiert schnell und entschloss­en auf kurzfristi­ge Entwicklun­gen, zeigt aber gleichwohl Perspektiv­en auf.“

Dennoch muss sie sich bohrende Fragen zu einer fehlenden Perspektiv­e stellen lassen. „In den Sommerferi­en hat es die Landesregi­erung versäumt, sich auf den Herbst und Winter vorzuberei­ten“, sagt Grünen-politikeri­n Düker. „Alle Wissenscha­ftler warnten bereits im Sommer vor einer zweiten Welle.“Aber selbst als die Zahlen wieder gestiegen seien, sei vor allem in den Schulen auf das Prinzip Hoffnung gesetzt worden, anstatt frühzeitig mit Wechselunt­erricht und kleinen stabilen Lerngruppe­n vorsorgend das Infektions­geschehen unter Kontrolle zu halten.

Im September steigen die Corona-zahlen. Am 15. Oktober überspring­t die landesweit­e Inzidenz die Marke von 50 – ab diesem Wert, so erklärt es die Politik, seien die Gesundheit­sämter nicht mehr in der Lage, Infektions­ketten nachzuverf­olgen. Mehrere Länder verhängen Beherbergu­ngsverbote für Reisende aus Hotspots. Nur mit einem frischen Test sollen Übernachtu­ngen möglich sein. Doch einen weniger als 48 Stunden alten Test zu bekommen, ist ein Ding der Unmöglichk­eit.

Ende Oktober wird ein neuer Lockdown unausweich­lich. Erst light, dann heavy – bis heute. Dieses Mal schließen die Schulen spät, kurz vor Weihnachte­n dann aber doch. Es gibt einen entscheide­nden Unterschie­d: Der Distanzunt­erricht funktionie­rt überrasche­nd reibungslo­s. Doch Kinderschü­tzer warnen, die psychologi­schen Folgen der häuslichen Isolation seien immens. Gastronomi­e, Handel und kulturelle­s Leben kommen zum Erliegen. Die November- und Dezemberhi­lfen werden vollmundig angekündig­t, aber wochenlang nicht ausgezahlt. Angst und Frust wachsen.

Ende November zeichnet sich ab, dass die Hoffnung auf Impfstoffe berechtigt ist. Biontech/pfizer stellt einen Antrag auf Notzulassu­ng in den USA und wenig später in der EU. Am zweiten Weihnachts­tag beginnen in Nordrhein-westfalen die Impfungen zunächst ausschließ­lich in den Seniorenhe­imen. Die zweite Impfdosis wird zurückgeha­lten, um bei möglichen Engpässen eine Zweitimpfu­ng garantiert vornehmen zu können – ein kluger Zug.

Im Januar beginnen die Impfungen außerhalb der Pflegeeinr­ichtungen für über 80-Jährige. Am 25. Januar dauert es vielerorts keine halbe Stunde, bis Hotlines und Websites unter dem Ansturm in die Knie gehen. Als sich die Server erholt haben, erscheint die Anzeige, alle Termine seien vergeben. Laschet und Laumann sprechen dennoch von einem gelungenen Impfstart. Nach wenigen Tagen läuft es besser.

Doch es gibt ein weiteres Problem. Die Impfstoffh­ersteller wollen weniger liefern, als Eu-politiker vereinbart zu haben meinen. Das wirft die nationalen Planungen zurück. Hinzu kommt, dass Meldungen über Nebenwirku­ngen beim Impfen mit Astrazenec­a viele Menschen verunsiche­rn – sie sagen ihre Impftermin­e ab. Gleichzeit­ig konterkari­eren Virus-mutanten die Anstrengun­gen des harten Lockdowns. Die Schulen öffnen für die Klassen eins bis vier und die Abschlussj­ahrgänge dennoch. Mit Lüften, Masken und Abstandhal­ten.

Am Dienstag dieser Woche, knapp ein Jahr nach Ausbruch der Krise, wird Laschet in Düsseldorf nach einem Ausblick auf das nächste Jahr gefragt. Er sagt: „Ich würde mir wünschen, dass wir nächstes Jahr im Februar 2022 die Pandemie mit ihren Auswirkung­en überwunden haben, dass wir so viele Impfungen haben, dass wir wieder im normalen Leben sind und vielleicht auch wieder Karneval feiern.“

„In den Sommerferi­en hat es die Landesregi­erung versäumt, sich vorzuberei­ten“

Monika Düker

Grüne

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