Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Laschets Corona-Bilanz
„Wo viel gearbeitet wird, da können auch mal Fehler passieren“
Yvonne Gebauer (FDP)
Schulministerin
NRW war mit dem Fall Gangelt zu Beginn der Pandemie so stark betroffen wie kein anderes Bundesland. Selten standen die Landesregierung und das Düsseldorfer Parlament derart im Fokus der Öffentlichkeit. Rückblick auf das Auf und Ab eines Ausnahmejahrs auch in Nordrhein-westfalen.
Der Ground Zero der Corona-pandemie in NRW liegt nahe der niederländischen Grenze. In Gangelt feiern sie am 15. Februar ausgelassen bei der Kappensitzung. Noch ist Corona aus Sicht der nordrhein-westfälischen Landespolitik weit weg. Am Veilchendienstag ist das dominierende Thema in den Medien, dass Ministerpräsident Armin Laschet sich mit Gesundheitsminister Jens Spahn im Tandem um den CDU-BUNdesvorsitz bewirbt. Die Lage ändert sich am Abend schlagartig.
Bei einem Ehepaar aus dem Selfkant, der Nachbargemeinde von Gangelt, wird SarsCov-2 festgestellt. Der Zustand des Mannes ist kritisch. Es ist der erste Covid-fall in Nordrhein-westfalen, der 18. in Deutschland. Der Krisenstab des Kreises tritt zusammen: Schulen, Kitas und Behörden sollen schließen. Landrat Stephan Pusch (CDU) wird sich später beklagen, dass sich das Nrw-gesundheitsministerium gegen eine freiwillige häusliche Quarantäne aller Bürger ausgesprochen habe. Offenbar ist die Brisanz der Lage vielen noch nicht klar. Selbst das Robert-koch-institut (RKI) schätzt die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland als „mäßig“ein.
Bald aber schießen die Zahlen in die Höhe. Laschet reist noch Ende Februar zur Eröffnung eines Büros des Landes nach Israel. Doch auch dort bekommt er zu spüren, dass Nordrhein-westfalen es bald schon schwerer haben werden. An einem Krankenhaus in Jerusalem wird die prominente Reisegruppe aus Vorsicht abgewiesen. Zwei Tage nach seiner Rückkehr veröffentlicht das RKI erstmals seinen Lagebericht zu Covid-19: 42 Prozent der 262 Fälle in Deutschland seien auf die Karnevalssitzung in Gangelt zurückzuführen. In den ersten Tagen übernimmt Gesundheitsminister Karl-josef Laumann (CDU) die Kommunikation. Der stockt schnell den Krisenstab in seinem Haus von wenigen Köpfen auf 33 Kräfte auf.
Schon bald wird offensichtlich, dass der gefährlichste Gegner in der Frühphase der Mangel ist. Es fehlt an Masken, an Schutzkitteln, an Desinfektionsmitteln. Cent-artikel sind auf dem Weltmarkt nur noch zu astronomischen Preisen zu erhalten. Bald wird im Kreis Heinsberg das medizinische Personal knapp, auch Ärzte und Pflegekräfte erkranken. Kinderkrankenschwestern mit leichten Symptomen dürfen trotzdem arbeiten, entscheidet Laumann und widersetzt sich dem RKI. Nur so wird verhindert, dass Säuglinge mittelbar an Corona sterben.
Landrat Pusch tut, was man sonst von unzufriedenen Kunden der Mobilfunkoder Internetanbieter kennt: Er macht seinem Frust in den sozialen Medien Luft. Mit Videobotschaften richtet er sich an die Bürger. Das gefällt nicht jedem in Düsseldorf. Statt Lieferungen des benötigten Materials erhält Puschs Krisenstab von dort Telefonnummern, wo die Materialien bestellt werden könnten. Medienwirksam schreibt er eine E-mail an Chinas Präsident Xi Jinping und bittet diesen um Masken.
Ein weiterer schwerer Fehler unterläuft dem Land, als es nicht vehement genug auf Mönchengladbach einwirkt, ein Fußballspiel zu unterbinden. Gesundheitsminister Laumann steht auf dem Standpunkt, Veranstaltungen könnten nur die örtlichen Gesundheitsämter absagen – oder aber der Bund. Land, Verein und Stadt beschränken sich darauf, die Fans zu bitten, freiwillig auf ihre Tickets zu verzichten. Am 7. März verfolgen 53.877 Zuschauer im nahezu ausverkauften Stadion, wie Mönchengladbach gegen Borussia Dortmund mit 1:2 verliert. Innerhalb von zehn Tagen verdoppelt sich die Inzidenz im Kreis Heinsberg auf 156,5.
Es ist der Moment, in dem die Opposition im Landtag ihre Zurückhaltung aufgibt. Am 11. März, dem Tag, an dem die Weltgesundheitsorganisation erstmals von einer weltweiten Pandemie spricht, weist Spd-fraktionschef Thomas Kutschaty darauf hin, dass in Schulen Seife, Papiertücher, Toilettenpapier und Desinfektionsmittelspender fehlten. Auf der Regierungsbank wird das als Majestätsbeleidigung aufgefasst. Ministerpräsident Laschet blafft zurück: „Ich kümmere mich persönlich darum, dass die ihr Papier kriegen, verdammt noch mal!“
Gerade in herausfordernden Zeiten müssten die Menschen auf die öffentlichen und staatlichen Institutionen vertrauen können, sagt Laumann in derselben Sitzung. Doch nun bricht die Zeit des Sich-korrigieren-müssens an. Eine Maskenpflicht? Unnötig. Schulschließungen? Nicht erforderlich.
Freitag, der 13. März 2020. Wie jeden Morgen verlassen 2,5 Millionen Kinder in NRW das Haus und brechen zur Schule auf. Zum letzten Mal für lange Zeit. Zu diesem Zeitpunkt ahnt das kaum jemand. Erst kurz vor der letzten Unterrichtsstunde ertönen in den Schulfluren Lautsprecherdurchsagen: „Falls die Schule länger ausfallen sollte, nehmt bitte alle eure Bücher mit nach Hause.“Die Aufforderung ist im Konjunktiv gehalten, denn eine offizielle Information gibt es bis Schulschluss nicht.
Laschet tritt um 14.30 Uhr vor die Presse, spricht von Solidarität mit Älteren und Schwachen. Davon, soziale Kontakte möglichst zu minimieren. Dann kommt er zu den Fakten: Schulen und Kitas bleiben bis zum 19. April geschlossen. Notbetreuungen sollen garantieren, dass Kinder von Eltern mit „systemrelevanten Berufen“wie Mediziner oder Krankenpfleger beaufsichtigt sind. Ansonsten gilt für Kitas sogar ein Betretungsverbot. „Die Eltern sind verpflichtet, ihre Aufgabe zur Erziehung der Kinder wahrzunehmen“– ein Satz wie aus der Kaiserzeit.
Der Beginn des Sommersemesters an den Unis wird verschoben, Theater und Kultureinrichtungen schließen, Beschäftigte sollen möglichst im Homeoffice arbeiten.
Mit diesem Freitag, dem 13., ändert die Pandemie das Leben der meisten Bürger in NRW von Grund auf. Wie sehr, das sickert erst allmählich ins Bewusstsein ein. Noch freuen sich die Kinder über verlängerte Ferien und viele Eltern über mehr Zeit zu Hause, weil das Pendeln zum Arbeitsplatz wegfällt.
Verunsichert sind vor allem ältere Menschen. Von Anfang an ist es schwer, etwa den Großeltern zu vermitteln, dass Fürsorge gerade darin besteht, sie nicht zu besuchen. Besonders hart trifft es die Bewohner von Altenheimen und Patienten in Krankenhäusern: Die Besuchsmöglichkeiten werden stark eingeschränkt.
Einiges aus dieser Phase des ersten Lockdowns, der damals noch Shutdown heißt, hat die Landesregierung inzwischen bereut. Ein Betretungsverbot für Kitas, betont der liberale Familienminister Joachim Stamp heute, werde es mit ihm nicht mehr geben. Ein ums andere Mal hat er seither eine Bildungsgarantie für alle Kinder abgegeben. Die Auswahl sogenannter systemrelevanter Gruppen habe viel Neid unter den Eltern ausgelöst.
Auch seine Parteifreundin, Schulministerin Yvonne Gebauer, würde aus heutiger Sicht manches anders machen: „Wo viel gearbeitet wird, da können auch mal Fehler passieren.“Sowohl als Mutter als auch als Politikerin verstehe sie alle Eltern, die aufgrund der vielen Unsicherheiten mit mancher politischen Entscheidung haderten. Doch nachdem die Schulen durchschnittlich für stets mehr als 95 Prozent aller Schüler Präsenzunterricht hätten sicherstellen können, „meine ich, dass die getroffenen Entscheidungen richtig waren“, resümiert Gebauer gegenüber unserer Redaktion.
Irreversibel sind teils die Schäden, die das Besuchsverbot in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern anrichtet. Dazu zählen Demenzkranke, die nach wochenlanger Isolation ihre Angehörigen nicht mehr erkennen. Oder Sterbende, die sich von ihrer Familie nicht verabschieden konnten. Wenn Gesundheitsminister Karl-josef Laumann darüber spricht, kippt ihm gelegentlich die Stimme weg. Noch heute sagt er: „Die Maßnahme der Besuchsverbote, die mir im Übrigen sehr schwer gefallen ist, war nicht gut. Und natürlich hat es mich nicht kaltgelassen mitzubekommen, dass Ehepartner sich nicht mehr besuchen konnten oder es den Enkelkindern nicht mehr möglich war, ihre Großeltern zu sehen.“Aber man habe damals einfach nicht ausreichend Desinfektionsmittel, Schutzkittel, Ffp2-masken, Schnellteste und keine Hygiene- und Besuchskonzepte gehabt: „Das ist heute, Gott sei Dank, anders! Inzwischen haben wir genug Erfahrungen, um einen angemessenen Schutz auch ohne solche Verbote sicherzustellen, und das lässt mich auch wieder ruhiger schlafen.“
Im Frühjahr 2020 gibt es an den Beschränkungen insgesamt noch kaum öffentliche Kritik. Zu erschreckend sind die Bilder aus Italien, die Berge von Särgen, die vielen Krankenzelte als Notbehelf. Die Angst wirkt disziplinierend, der Shutdown wirkt. Im Eilverfahren geben die Parlamentarier am 24. März grünes Licht für einen 25 Milliarden Euro schweren, schuldenfinanzierten Rettungsschirm – Rückzahlungsdauer: 50 Jahre. Zu diesem Zeitpunkt habe es seitens der Landesregierung eine Bereitschaft gegeben, wesentliche Maßnahmen in Abstimmung mit der Opposition auf den Weg zu bringen, sagt die damalige Fraktionschefin der Grünen im Landtag, Monika Düker.
Das gilt jedoch nicht für alle Vorhaben. In einer überraschenden Aktion beschließt das Kabinett das sogenannte Epidemiegesetz, das im Pandemiefall den Durchgriff der Exekutive ermöglichen soll. Einige Passagen in dem Entwurf gehen sehr weit: Der Gesundheitsminister kann medizinisches Personal zur Arbeit im Krankenhaus gegen dessen Willen zwangsverpflichten – per Rechtsverordnung am Parlament vorbei und zum Teil unbefristet. An einem einzigen Tag will die Landesregierung das Ganze durch den Landtag pauken, ohne externen Sachverstand einzuholen.
Die Landtagsfraktionen sind alarmiert, zumal Rechtswissenschaftler das Gesetz in dieser Form für verfassungswidrig halten. Selbst innerhalb der Koalition regt sich Widerstand gegen das Gesetz und die eigenen Minister. Von denen der eine oder andere später zerknirscht einräumt, dass er den gesamten Entwurf zunächst gar nicht vollständig gelesen habe. Am Ende siegt das Parlament. „In den Beratungen zum Pandemiegesetz wurden unsere Änderungsvorschläge angenommen, sodass dieses Gesetz mit den demokratischen Fraktionen im Landtag gemeinsam verabschiedet werden konnte“, erinnert sich Grünen-politikerin Düker: Die Zwangsverpflichtung wird gestrichen, das Epidemiegesetz muss vom Landtag immer wieder neu für eine befristete Zeit debattiert und verabschiedet werden. Als „Sternstunde des Parlaments“wird Landtagspräsident André Kuper (CDU) dies später bezeichnen.
Immerhin: Die Infektionszahlen sinken aufgrund des ersten Shutdowns so nachhaltig, dass Deutschland in einen recht entspannten Sommer gleitet. Die Politik in der frühen Pandemiephase bringt der Bundesregierung weltweit den Ruf vorbildlichen Managements ein. Im Kreis der Ministerpräsidenten aber steht Laschet schon bald in der Kritik. Immer wieder prescht Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vor und verhängt härtere Maßnahmen, Nordrhein-westfalen muss nachziehen. „Zuerst musste man ja das Gefühl haben, dass NRW zwischenzeitlich aus München regiert wurde. Bayern machte die Schulen und Kitas zu – NRW machte es danach auch“, bilanziert Kutschaty.
Der Mann aus Nürnberg hat gegenüber dem Mann aus Aachen einen entscheidenden Vorteil: In der ersten Phase sitzt er als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) nach den Bund-länder-schalten neben der Kanzlerin, die zum Ende ihrer Regierungszeit ungeahnte Popularitätswerte genießt. In Düsseldorf löst das Frust aus. Eigentlich sei Söders Rolle ja, vor der MPK Einigkeit herzustellen, zumindest aber die Sitzungen vorzubereiten, stattdessen presche er immer wieder vor und versuche so, die anderen schlecht dastehen zulassen,
heißt es aus Laschets Umfeld. Söder mache große Ankündigungen und schwenke dann still und heimlich auf die Nrw-linie ein.
Tatsächlich kommt das so im Falle der Ausgangsbeschränkungen Ende März. Die hat der Bayer lautstark angekündigt. Wenige Wochen später dann der Schwenk: Söder ersetzt die Ausgangsbeschränkung durch Laschets Modell der Kontaktbeschränkungen. Nur noch zwei Leute aus unterschiedlichen Haushalten dürfen sich in NRW treffen. Politischen Profit daraus schlagen kann der Nordrhein-westfale nicht.
Am 29. März erscheint in der „Welt am Sonntag“ein Gastbeitrag, der Laschets Ruf als Lockerungspapst begründen wird. „Jetzt müssen wir für die Zeit nach Corona planen“, schreibt er. Viele reiben sich verwundert die Augen, denn in NRW gibt es nunmehr 13.910 Covid-fälle, die Inzidenz ist mit 34,8 so hoch wie nie zuvor. Die Gefährdung für die Bevölkerung schätzt das RKI als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Laschet ist nicht der erste Politiker, der die Forderung stellt. Schon der Düsseldorfer OB Thomas Geisel (SPD) hatte sich nur vier Tage zuvor ähnlich geäußert. Doch Laschet ist prominenter.
Er wird später immer wieder darauf hinweisen, dass er sich zum schwierigeren Weg entschlossen habe. Alles zu schließen und immer noch mehr Grundrechte einzuschränken, sei einfach, sich aber an jedem Tag wieder zu hinterfragen, ob die Grundrechtseinschränkungen noch nötig seien, sei der unpopulärere, aber richtige Weg. Die Umfragen stützen die These. Söders Beliebtheitswerte erklimmen immer neue Höhen, während Laschet im Umfragekeller vor sich hindümpelt. Söder genießt das sichtlich und stichelt fleißig gegen den Kontrahenten. Sollten im Sommer tatsächlich wieder Urlaubsreisen innerhalb Deutschlands möglich sein, sagt Söder Ende April nach einer MPK, „kann ich jedem, der in den Süden fährt, sagen: Man muss nicht nach Österreich fahren. Man kann auch in Bayern Urlaub machen.“Und er fügt nach dem Hinweis der mecklenburg-vorpommerschen Kanzlerin, dass man auch im Norden viel Spaß haben könne, hinzu: „Der Westen ist da nicht dabei.“Dabei ist Bayern da bei den Infektionszahlen den Nordrhein-westfalen schon enteilt – im negativen Sinne. Denn ähnlich wie Gangelt setzt den Süddeutschen ein zweiter Hotspot zu: Ischgl.
Laschet, der noch in einem dramatischen Appell Mitte März gesagt hatte, es gehe um Leben und Tod, ist gedanklich schon mit Blick auf Ostern dabei, das öffentliche Leben wieder anzufahren. Am 1. April ruft er seinen „Expertenrat Corona“ins Leben. Dem prominent besetzten Gremium gehören unter anderem der Bonner Virologe Hendrik Streeck, der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, der frühere Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, Telekom-managerin Claudia Nemat und der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio an. Von ihm holt sich Laschet zu Beginn des Shutdowns Rat. Di Fabio hält die Grundrechtseinschnitte nach Laschets Darstellung zu Beginn für vertretbar, aber nicht auf Dauer. Jeden Tag aufs Neue hinterfragen, das wird zum Sound von Laschets Öffnungspolitik.
Auch in Streeck hat er einen telegenen Verbündeten. Der Virologe ist inzwischen Stammgast in Talkshows und der Gegenentwurf zum vorsichtigen Kanzlerinnenberater Christian Drosten geworden. Das Land finanziert Streeck eine Studie im Kreis Heinsberg. Die wird für die Opposition zur Steilvorlage. Sie wirft der Landesregierung vor, es handle sich um eingekaufte Expertise. Laschet selbst trägt Mitschuld daran. Er stilisiert schon ein Zwischenergebnis zur Grundlage für mögliche Öffnungsschritte an Ostern. Experten äußern Zweifel der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Bundesebene. Bohrende Fragen rund um die Begleitung der Studie durch die Pr-agentur Storymachine des Ex-„bild“-chefs Kai Diekmann tun ein Übriges. Doch da hat der Öffnungszug längst Fahrt aufgenommen.
So weit treiben einige Länderchefs im Frühjahr die Lockerungen, dass die Kanzlerin sie zur Räson ruft. In Nordrhein-westfalen sollen die Schulen teilweise wieder öffnen, Abschlussprüflinge und Abiturienten zuerst; das Abitur wird um drei Wochen verschoben. Die meisten Schüler sind zu jener Zeit mehr oder weniger auf sich gestellt. Digitalunterricht per Video funktioniert nur sporadisch. Eltern, insbesondere Mütter, klagen zunehmend über die Dreifachbelastung aus Homeschooling, Homeoffice und Haushalt. Dies sei ein Beispiel für die Versäumnisse der Vergangenheit, sagt die Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Nordrhein-westfalen, Anja Weber: „Im Bildungsbereich wird die Chancenungleichheit zunehmen, und insgesamt wächst soziale Ungleichheit.“
Am 27. April wird die Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr eingeführt. Es ist das politische Eingeständnis, dass Mund-nasen-bedeckungen entgegen früheren Verlautbarungen doch das Ansteckungsrisiko verringern können. Die Maske wird in der Öffentlichkeit zum Standard – noch wenige Wochen zuvor wäre das undenkbar gewesen. Das Kontaktverbot wird bis zum 10. Mai verlängert.
Danach stehen die Zeichen auf Lockern; die Ministerpräsidenten überstimmen die Kanzlerin. Ihr bleibt nur, eine neue Obergrenze durchzusetzen: die Sieben-tages-inzidenz. In NRW machen im Mai Gaststätten und Geschäfte wieder auf – früher noch als Schulen und Kitas. Sogar Ausflugsschiffe schippern wieder den Rhein hinunter. In sozialen Netzwerken wird gespottet, berufstätige Eltern könnten ja ihre Kinder in die Kneipe bringen.
Der Rückschlag kommt am 27. Mai. Europas größter Fleischfabrikant, Tönnies in Rheda-wiedenbrück, teilt der Kreisverwaltung mit, man habe
19 Fälle festgestellt. Dass die Fleischindustrie anfällig ist, hatte zuvor ein Ausbruch bei der Firma Westfleisch im Kreis Coesfeld gezeigt. Doch die Dimensionen im Kreis Gütersloh sind gewaltig. Am Tag der ersten Meldung beträgt die Inzidenz traumhafte 3,3. Nicht einmal einen Monat später liegt sie bei 317. Unter den Werkvertragsarbeitern, die überwiegend aus Osteuropa stammen und unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und arbeiten, hat sich das Virus rasant ausgebreitet.
Die Landesregierung hat aus den Versäumnissen von Heinsberg gelernt. Gemeinsam mit dem Kreis geht sie von Anfang mit aller Konsequenz vor. Menschen werden, noch ehe sie überhaupt getestet wurden, in Quarantäne geschickt. Selbst Drosten findet lobende Worte dafür. Für Gütersloh wird ein Lockdown verhängt, später auch für den benachbarten Kreis Warendorf. Bislang gab es solche regionalen Differenzierungen nicht. Laschet wird sie später als Hotspot-strategie mit in die Ministerpräsidentenrunde einbringen.
Nicht einmal binnen Monatsfrist schaffen Kreis und Land das, wofür sie in Heinsberg doppelt so lange gebraucht haben. Einziger Misston: Am Rande einer MPK sagt der frühere nordrhein-westfälische Integrationsminister Laschet, der Corona-ausbruch in Rheda-wiedenbrück habe nichts mit seinen Lockerungen zu tun, „weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt“. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ausbruchsgeschehen in beiden Ländern deutlich niedriger als in Deutschland. Einen Tag später holt er seine Aussagen zurück.
Den Fall Gütersloh kann die Landesregierung dennoch auf der Haben-seite verbuchen: Karl-josef Laumann findet den Anpack, um den Bund mit markigen Worten („Ich lass mich doch nicht verarschen“) zu Verbesserungen der Situation der Werkvertragsarbeiter zu drängen. Und sogar als das Verfassungsgericht in Münster die scharfen Lockdown-maßnahmen kassiert, spielt Armin Laschet das in die Hände: Dass zu rigorose Maßnahmen keinen Gefallen bei den Richtern finden, weiß er seit Di Fabio.
Im Juni setzt sich die wissenschaftliche Erkenntnis durch, dass das Virus über Aerosole in der Luft übertragen wird. Weil sich im Sommer die Menschen draußen aufhalten, bleiben die Infektionszahlen trotz Lockerungen niedrig. Dazu beitragen soll auch die Corona-warn-app, die anzeigen soll, wenn ein Infizierter in der Nähe war. Grundschüler in NRW dürfen für zwei Wochen wieder täglich zur Schule gehen – sogar ohne Abstandspflicht. Der Schulbesuch älterer Kinder folgt einem rollierenden System – ein Präsenztag nur alle zehn Tage ist keine Seltenheit. Die Abiturienten und anderen Abschlussprüflinge werden durchs System geschleust. Ganz ohne Feiern und Rituale.
Anfang Juli macht eine Meldung die Runde, die so recht niemand glauben mag: Ab Januar könnte es einen Impfstoff geben. Zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich noch nicht ab, dass dies der Hoffnungswert ist, der die Menschen durch einen tristen Herbst mit hohen Infektionszahlen bringen muss. Denn nach den Sommerferien breitet sich im Umgang mit dem Virus eine neue Unbeschwertheit aus. Die Schulministerin verlässt sich auf Lüften, Masken und Hygiene und erlaubt Präsenzunterricht in voller Klassenstärke. Die Quarantäneregeln werden im Infektionsfall weit ausgelegt.
Viele sind von dieser Schulpolitik nicht überzeugt. Zu kurzfristig und zu erratisch erscheinen Lehrern, Eltern und Schülern die immer neuen Wendungen. Gebauer reagiert. Sie versucht, früher zu kommunizieren, und fängt sich prompt einen Rüffel des Ministerpräsidenten ein. Eine E-mail an die Schulen, die sie vor den Bund-länder-gesprächen herausgegeben hatte, kassiert er öffentlich. Im Rückblick sagt Gebauer: „Natürlich würde auch ich gerne längerfristige Regelungen treffen, die für alle Beteiligten mehr Planbarkeit bedeuten würden.“Dies lasse die Pandemie leider nicht zu: „Ein gutes Krisenmanagement versucht, den Menschen keine falsche Planbarkeit zu fingieren, sondern reagiert schnell und entschlossen auf kurzfristige Entwicklungen, zeigt aber gleichwohl Perspektiven auf.“
Dennoch muss sie sich bohrende Fragen zu einer fehlenden Perspektive stellen lassen. „In den Sommerferien hat es die Landesregierung versäumt, sich auf den Herbst und Winter vorzubereiten“, sagt Grünen-politikerin Düker. „Alle Wissenschaftler warnten bereits im Sommer vor einer zweiten Welle.“Aber selbst als die Zahlen wieder gestiegen seien, sei vor allem in den Schulen auf das Prinzip Hoffnung gesetzt worden, anstatt frühzeitig mit Wechselunterricht und kleinen stabilen Lerngruppen vorsorgend das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten.
Im September steigen die Corona-zahlen. Am 15. Oktober überspringt die landesweite Inzidenz die Marke von 50 – ab diesem Wert, so erklärt es die Politik, seien die Gesundheitsämter nicht mehr in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Mehrere Länder verhängen Beherbergungsverbote für Reisende aus Hotspots. Nur mit einem frischen Test sollen Übernachtungen möglich sein. Doch einen weniger als 48 Stunden alten Test zu bekommen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Ende Oktober wird ein neuer Lockdown unausweichlich. Erst light, dann heavy – bis heute. Dieses Mal schließen die Schulen spät, kurz vor Weihnachten dann aber doch. Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Der Distanzunterricht funktioniert überraschend reibungslos. Doch Kinderschützer warnen, die psychologischen Folgen der häuslichen Isolation seien immens. Gastronomie, Handel und kulturelles Leben kommen zum Erliegen. Die November- und Dezemberhilfen werden vollmundig angekündigt, aber wochenlang nicht ausgezahlt. Angst und Frust wachsen.
Ende November zeichnet sich ab, dass die Hoffnung auf Impfstoffe berechtigt ist. Biontech/pfizer stellt einen Antrag auf Notzulassung in den USA und wenig später in der EU. Am zweiten Weihnachtstag beginnen in Nordrhein-westfalen die Impfungen zunächst ausschließlich in den Seniorenheimen. Die zweite Impfdosis wird zurückgehalten, um bei möglichen Engpässen eine Zweitimpfung garantiert vornehmen zu können – ein kluger Zug.
Im Januar beginnen die Impfungen außerhalb der Pflegeeinrichtungen für über 80-Jährige. Am 25. Januar dauert es vielerorts keine halbe Stunde, bis Hotlines und Websites unter dem Ansturm in die Knie gehen. Als sich die Server erholt haben, erscheint die Anzeige, alle Termine seien vergeben. Laschet und Laumann sprechen dennoch von einem gelungenen Impfstart. Nach wenigen Tagen läuft es besser.
Doch es gibt ein weiteres Problem. Die Impfstoffhersteller wollen weniger liefern, als Eu-politiker vereinbart zu haben meinen. Das wirft die nationalen Planungen zurück. Hinzu kommt, dass Meldungen über Nebenwirkungen beim Impfen mit Astrazeneca viele Menschen verunsichern – sie sagen ihre Impftermine ab. Gleichzeitig konterkarieren Virus-mutanten die Anstrengungen des harten Lockdowns. Die Schulen öffnen für die Klassen eins bis vier und die Abschlussjahrgänge dennoch. Mit Lüften, Masken und Abstandhalten.
Am Dienstag dieser Woche, knapp ein Jahr nach Ausbruch der Krise, wird Laschet in Düsseldorf nach einem Ausblick auf das nächste Jahr gefragt. Er sagt: „Ich würde mir wünschen, dass wir nächstes Jahr im Februar 2022 die Pandemie mit ihren Auswirkungen überwunden haben, dass wir so viele Impfungen haben, dass wir wieder im normalen Leben sind und vielleicht auch wieder Karneval feiern.“
„In den Sommerferien hat es die Landesregierung versäumt, sich vorzubereiten“
Monika Düker
Grüne