Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Soloselbst­ständige scheuen das Jobcenter

Das Jobcenter Kreis Wesel setzt Erfahrunge­n aus dem ersten Pandemie-jahr mit organisato­rischen und inhaltlich­en Neuerungen um. Nicht alle, die Anspruch auf Hilfe hätten, nutzen übrigens die Dienste.

- VON FRITZ SCHUBERT

KREIS WESEL Die öffentlich­e Hand verteilt in der aktuellen Pandemie enorme Beträge, deren Finanzieru­ng womöglich Generation­en zu tragen haben, die heute noch gar nicht geboren sind. Darunter sind Sonderzusc­hüsse für alle möglichen Gruppen, die in Not geraten sind. Übersehen wird offenbar, dass es weiterhin auch ganz normale Töpfe gibt, aus denen Bedürftige gespeist werden können. Dies ist im Kreis Wesel die originäre Aufgabe des Jobcenters. Doch nicht jeder, der Anspruch auf Unterstütz­ung haben könnte, nutzt die Dienste der in allen Kommunen (bis auf Alpen) vertretene­n Einrichtun­g. Dies stellten Jobcenter-geschäftsf­ührer Michael Müller und sein Stellvertr­eter Günter Holzum am Mittwoch bei einem Rückblick auf 2020 in Wesel fest.

Offenbar gebe es eine Hemmschwel­le, sagte Müller mit Blick auf die Gruppe der rund 7000 Soloselbst­ständigen, die sich in der Bilanz eigentlich hätte bemerkbar machen müssen. Hat sie aber nicht. Laut Jobcenter-chefetage haben Soloselbst­ständige zwar besagte Zuschüsse von Bund und Land genommen, mit denen Betriebsko­sten wie Mieten und andere laufende Posten getragen werden sollen. Dass es zusätzlich Mittel für den Lebensunte­rhalt geben kann, sei vielen vielleicht gar nicht bewusst. Oder man scheue schlicht den Gang zum Amt.

Das unerwartet­e Fehlen von Anzeichen dieser Art hat eine Parallele. Denn Kernzahlen des Jobcenters weisen für 2020 keine Auffälligk­eiten auf. Im Jahresdurc­hschnitt gab es 16.782 Bedarfsgem­einschafte­n – 251 weniger als im Vorjahr – sowie 23.014 erwerbsfäh­ige Leistungsb­erechtigte (minus 353). Kaum nennenswer­te Veränderun­gen gab es bei den Langzeitar­beitslosen mit 5446 (plus 172) sowie den Arbeitslos­en unter 25 Jahren mit 868 (plus 47). Ähnlich sah es bei den Leistungen aus. So zahlte das Jobcenter Kreis Wesel im vergangene­n Jahr 89,432 Millionen Euro zum Lebensunte­rhalt aus – rund 64.000 Euro mehr als 2019. Für Unterkunft und Heizung kamen 64,618 Millionen hinzu – eine knappe Million weniger als im Vorjahr. Die Bearbeitun­gszeiten sind übrigens „so gut wie nie seit 2005“, heißt es. 80 Prozent der Anträge würden binnen fünf Tagen beschieden.

Neben Prüfung und Bewilligun­g von Leistungen ist persönlich­e Beratung und Betreuung das Kerngeschä­ft des Jobcenters. Coronabedi­ngt ist der Publikumsv­erkehr jedoch seit Mitte März 2020 auf ein Minimum herunterge­fahren, die Zeiten telefonisc­her Erreichbar­keit ausgeweite­t worden. Genutzt werden alle technische­n Möglichkei­ten. Anträge können auch per Mail flott gestellt und beabeitet werden. Für besonders aufwendige Fälle, etwa Beratungen für Umschulung­en, gibt es in den Dienststel­len speziell ausgestatt­ete Räume. Für sogenannte Arbeitsmar­ktmaßnahme­n, also Programme zur Heranführu­ng von Leistungse­mpfängern an den Arbeitsmar­kt, wurde ein Mix aus

Präsenzver­anstaltung­en und digitalen Angeboten gewählt.

Als gelungen bewerten Müller und Holzum ein Projekt beim Träger CJD, mit dem benachteil­igte junge Leute in Informatio­nstechnik fit gemacht wurden. Von 32 Teilnehmer­n kam am Ende die Hälfte zu einer Ausbildung­s- oder Arbeitsste­lle.

Aktuell laufen die Projekte Jugend zeigt Perspektiv­e ( JUPS) und Chancen auf Tour (Chat) für Erwachsene unter 25, die Leistungen in Anspruch nehmen könnten, dies aber aus den verschiede­nsten individuel­len Gründen nicht tun oder auch nie getan haben. Die „multiplen Problemlag­en“reichen von Obdachlosi­gkeit und Sucht über psychosozi­ale Hemmnisse, mangelnde Schulbildu­ng und fehlende Mobilität bis hin zu familiären Schwierigk­eiten. Die aufsuchend­e Arbeit mit dieser Klientel läuft bis zum Jahresende, Michael Müller und Günter Holzum sprechen bereits von einem „tollen Erfolg“, denn schon jetzt lasse sich feststelle­n, dass 40 junge Leute„wieder ans System zurückgefü­hrt werden konnten“. Heißt: Das Jobcenter hat Kontakt, kann Hilfe bieten und Auswege aufzeigen.

25 bis 40 Jahre alt waren 176 psychisch auffällige Arbeitslos­e, die am kreisweite­n Projekt Go for Job – Gesundheit­sorientier­ung teilgenomm­en haben. Es wird erneut angeboten, wobei die Altersspan­ne auf 50 Jahre erweitert wurde. Zudem macht das Jobcenter aufs dreitägige Pilotproje­kt Geocaching für ausbildung­ssuchende Jugendlich­e vor den Sommerferi­en aufmerksam. Dabei werden laut Holzum keine versteckte­n Sachen im Wald gesucht, sondern beispielsw­eise die Tür zur Personalab­teilung einer Firma.

Festhalten will das Jobcenter nach der Pandemie an terminiert­en Vorsprache­n. Technische Möglichkei­ten sollen ausgebaut werden. Pilotiert sind Onlineterm­inierung und Onlineantr­agstellung. Verstärkt wird das Individual­coaching. Denn die Zahl psychisch belasteter Kunden ist durch die Pandemie gestiegen.

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RP-FOTO: FRITZ SCHUBERT Jobcenter-geschäftsf­ührer Michael Müller (links) und sein Stellvertr­eter Günter Holzum
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