Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Soloselbstständige scheuen das Jobcenter
Das Jobcenter Kreis Wesel setzt Erfahrungen aus dem ersten Pandemie-jahr mit organisatorischen und inhaltlichen Neuerungen um. Nicht alle, die Anspruch auf Hilfe hätten, nutzen übrigens die Dienste.
KREIS WESEL Die öffentliche Hand verteilt in der aktuellen Pandemie enorme Beträge, deren Finanzierung womöglich Generationen zu tragen haben, die heute noch gar nicht geboren sind. Darunter sind Sonderzuschüsse für alle möglichen Gruppen, die in Not geraten sind. Übersehen wird offenbar, dass es weiterhin auch ganz normale Töpfe gibt, aus denen Bedürftige gespeist werden können. Dies ist im Kreis Wesel die originäre Aufgabe des Jobcenters. Doch nicht jeder, der Anspruch auf Unterstützung haben könnte, nutzt die Dienste der in allen Kommunen (bis auf Alpen) vertretenen Einrichtung. Dies stellten Jobcenter-geschäftsführer Michael Müller und sein Stellvertreter Günter Holzum am Mittwoch bei einem Rückblick auf 2020 in Wesel fest.
Offenbar gebe es eine Hemmschwelle, sagte Müller mit Blick auf die Gruppe der rund 7000 Soloselbstständigen, die sich in der Bilanz eigentlich hätte bemerkbar machen müssen. Hat sie aber nicht. Laut Jobcenter-chefetage haben Soloselbstständige zwar besagte Zuschüsse von Bund und Land genommen, mit denen Betriebskosten wie Mieten und andere laufende Posten getragen werden sollen. Dass es zusätzlich Mittel für den Lebensunterhalt geben kann, sei vielen vielleicht gar nicht bewusst. Oder man scheue schlicht den Gang zum Amt.
Das unerwartete Fehlen von Anzeichen dieser Art hat eine Parallele. Denn Kernzahlen des Jobcenters weisen für 2020 keine Auffälligkeiten auf. Im Jahresdurchschnitt gab es 16.782 Bedarfsgemeinschaften – 251 weniger als im Vorjahr – sowie 23.014 erwerbsfähige Leistungsberechtigte (minus 353). Kaum nennenswerte Veränderungen gab es bei den Langzeitarbeitslosen mit 5446 (plus 172) sowie den Arbeitslosen unter 25 Jahren mit 868 (plus 47). Ähnlich sah es bei den Leistungen aus. So zahlte das Jobcenter Kreis Wesel im vergangenen Jahr 89,432 Millionen Euro zum Lebensunterhalt aus – rund 64.000 Euro mehr als 2019. Für Unterkunft und Heizung kamen 64,618 Millionen hinzu – eine knappe Million weniger als im Vorjahr. Die Bearbeitungszeiten sind übrigens „so gut wie nie seit 2005“, heißt es. 80 Prozent der Anträge würden binnen fünf Tagen beschieden.
Neben Prüfung und Bewilligung von Leistungen ist persönliche Beratung und Betreuung das Kerngeschäft des Jobcenters. Coronabedingt ist der Publikumsverkehr jedoch seit Mitte März 2020 auf ein Minimum heruntergefahren, die Zeiten telefonischer Erreichbarkeit ausgeweitet worden. Genutzt werden alle technischen Möglichkeiten. Anträge können auch per Mail flott gestellt und beabeitet werden. Für besonders aufwendige Fälle, etwa Beratungen für Umschulungen, gibt es in den Dienststellen speziell ausgestattete Räume. Für sogenannte Arbeitsmarktmaßnahmen, also Programme zur Heranführung von Leistungsempfängern an den Arbeitsmarkt, wurde ein Mix aus
Präsenzveranstaltungen und digitalen Angeboten gewählt.
Als gelungen bewerten Müller und Holzum ein Projekt beim Träger CJD, mit dem benachteiligte junge Leute in Informationstechnik fit gemacht wurden. Von 32 Teilnehmern kam am Ende die Hälfte zu einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle.
Aktuell laufen die Projekte Jugend zeigt Perspektive ( JUPS) und Chancen auf Tour (Chat) für Erwachsene unter 25, die Leistungen in Anspruch nehmen könnten, dies aber aus den verschiedensten individuellen Gründen nicht tun oder auch nie getan haben. Die „multiplen Problemlagen“reichen von Obdachlosigkeit und Sucht über psychosoziale Hemmnisse, mangelnde Schulbildung und fehlende Mobilität bis hin zu familiären Schwierigkeiten. Die aufsuchende Arbeit mit dieser Klientel läuft bis zum Jahresende, Michael Müller und Günter Holzum sprechen bereits von einem „tollen Erfolg“, denn schon jetzt lasse sich feststellen, dass 40 junge Leute„wieder ans System zurückgeführt werden konnten“. Heißt: Das Jobcenter hat Kontakt, kann Hilfe bieten und Auswege aufzeigen.
25 bis 40 Jahre alt waren 176 psychisch auffällige Arbeitslose, die am kreisweiten Projekt Go for Job – Gesundheitsorientierung teilgenommen haben. Es wird erneut angeboten, wobei die Altersspanne auf 50 Jahre erweitert wurde. Zudem macht das Jobcenter aufs dreitägige Pilotprojekt Geocaching für ausbildungssuchende Jugendliche vor den Sommerferien aufmerksam. Dabei werden laut Holzum keine versteckten Sachen im Wald gesucht, sondern beispielsweise die Tür zur Personalabteilung einer Firma.
Festhalten will das Jobcenter nach der Pandemie an terminierten Vorsprachen. Technische Möglichkeiten sollen ausgebaut werden. Pilotiert sind Onlineterminierung und Onlineantragstellung. Verstärkt wird das Individualcoaching. Denn die Zahl psychisch belasteter Kunden ist durch die Pandemie gestiegen.