Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Endlich normal leben
Sophie Vivien Kutzner aus Waltrop wurde in einem männlichen Körper geboren, lebt aber seit 2015 als Frau. Ihr Nachbar nennt sie weiterhin Rüdiger. Nun klagt die 59-Jährige auf Unterlassung, weil sie sich diskriminiert fühlt.
„Jeder Mensch hat das Recht darauf, mit seinem richtigen Vornamen angesprochen zu werden“Burkhard Benecken Anwalt
WALTROP Als sie klein war, liebte Sophie Vivien Kutzner Puppen. In der Schule fand sie Häkeln toll, und sie träumte davon, lange Haare zu haben. Doch sie bekam als Kind keine Puppen. Sie war in der Schule auch nicht bei den Mädchen im Handarbeitskursus, und die Haare musste sie kurz tragen. Sophie Vivien Kutzner wurde als Junge geboren, dem die Eltern den Namen Rüdiger gaben. Der Junge wuchs in Waltrop im nördlichen Ruhrgebiet zum Mann heran, er hatte Beziehungen zu Frauen, machte eine Ausbildung zum Immobilienmakler, arbeitete. Und hatte dabei immer das Gefühl, im verkehrten Leben zu stecken.
„Ich habe als Kind schon gespürt, dass ich eigentlich ein Mädchen bin“, sagt Sophie Vivien Kutzner. „Aber meine Eltern haben diesen Wunsch unterdrückt und mir das Gefühl gegeben, ich wäre nicht ganz dicht. Als ob etwas mit mir nicht stimmen würde.“Wenn man einem Kind so etwas oft genug sagt, glaubt es irgendwann daran. „Ich dachte, ich sei nicht normal, und hab mich sehr zurückgezogen.“49 Jahre lang lebte sie ihr Leben als Mann. Die Sehnsucht, in Röcke und schöne Kleider zu schlüpfen, sich zu schminken, sich nicht nur wie eine Frau zu fühlen, sondern auch wie eine auszusehen, stillte sie heimlich zu Hause. „Wenn jemand klingelte, hab ich mich fix wieder umgezogen.“Den ersten Rock kaufte sie sich in einem Geschäft in Dortmund, ohne ihn anzuprobieren, er war vier Nummern zu groß. „Dabei hatte ich meine Taille extra gemessen, ich dachte erst: Mogeln etwa alle Frauen bei den Kleidergrößen?“
Erst 2010 merkte Sophie Vivien Kutzner, dass sie nicht allein ist. „Da waren viele Berichte über Transsexuelle in den Medien, und ich habe mir erst Beratungsstellen gesucht, dann einen guten Psychologen.“Nach einem halben Leben als Mann machte sie sich auf den Weg, endlich als Frau zu leben. Psychotherapeuten schrieben Gutachten, die Sophie Vivien Kutzner eine Transidentität bescheinigten. Ein Gericht musste über eine Vornamens- und Personenstandsänderung entscheiden.
Bei transidenten Menschen stimmt das Geschlecht, mit dem sie zur Welt gekommen sind, nicht mit dem gefühlten Geschlecht überein. Sie ziehen die Bezeichnung dem bekannteren Begriff „transsexuell“vor, weil es um die Geschlechtsidentität und nicht um die sexuelle Orientierung geht. Sophie Vivien Kutzner will keine chirurgische Geschlechtsangleichung und lebt auch heute wieder mit einer Frau zusammen.
Fünf weitere Jahre dauerte es, bis aus Rüdiger ganz offiziell Sophie Vivien wurde und sie ihren neuen Personalausweis mit dem Frauennamen unterzeichnen konnte. Auf dem Passbild sieht sie glücklich aus. In Frauenkleidern nach draußen wagte sie sich zuerst aber nur im Herbst, mit Schal und dicker Jacke. „Aber je öfter ich es gemacht habe, desto normaler wurde es.“
Heute ist Sophie Vivien Kutzner 59 Jahre alt, und wenn sie im Minirock durch Waltrop geht, wird sie oft angesprochen. Sie ist 1,90 Meter groß, braucht Schuhe in Größe 46. „Meine kleine Tochter findet dich klasse!“, sagte gerade vor ein paar Tagen ein Mann zu ihr. Einmal ging sie an vier älteren Damen vorbei, die in einer Eisdiele saßen. „Eine rief: Guckt euch mal an, was der für tolle Beine hat!“, erzählt Sophie Vivien Kutzner. In dem Moment war ihr wegen des schönen Kompliments sogar egal, dass sie als Mann bezeichnet wurde. Ein Psychologe hatte ihr geraten, wegzuziehen aus dem Kreis Recklinghausen, um ganz neu anfangen zu können als Frau. „Aber das kam für mich nicht infrage.“Warum auch? „In Waltrop ist es schön. Wenn jemand ein Problem mit mir hat, kann der ja wegziehen.“
Ihre Männerklamotten hat sie längst entsorgt. „Anfangs hatte ich immer noch eine kleine Kollektion im Schrank – für Termine auf dem Amt, da war mein Ausweis noch nicht umgeschrieben.“Die alte Clique, enge Freunde, Nachbarn und Kollegen reagierten alle gelassen auf ihre Entscheidung. „Mein Bruder sagte nur: Alles klar, sag Bescheid, wie ich dich nennen soll, wenn es so weit ist.“Die Eltern haben die Veränderung ihres Sohnes nicht mehr erlebt, sie sind bereits gestorben.
Aber es gibt auch unangenehme Situationen für Sophie Vivien Kutzner. Jugendliche in Gruppen, die über sie lachen, ihr „Transe“nachrufen. Und es gibt einen Mann, der sie immer wieder mit ihrem alten Namen Rüdiger anspricht, wie sie erzählt. „Rüdiger, trägst du heute wieder ein Röckchen?“, soll er zum Beispiel gesagt haben, als sie sich an der Bushaltestelle begegneten – vor allen Leuten. „Wir kennen uns seit 35 Jahren, seit eineinhalb Jahren provoziert und beleidigt er mich in der Öffentlichkeit.“Mit ihrem Rechtsanwalt Burkhard Benecken geht sie nun dagegen vor. „Jeder Mensch hat das Recht darauf, mit seinem richtigen Vornamen angesprochen zu werden“, sagt Benecken. „Wenn man sich bewusst für ein anderes Geschlecht entschieden hat, wiegt dieses Persönlichkeitsrecht meiner Auffassung nach noch höher.“
Zwei außergerichtliche Schlichtungstermine scheiterten, weil der Nachbar nicht erschienen ist. Nun klagt Sophie Vivien Kutzner vor dem Amtsgericht Recklinghausen auf Unterlassung. „Wir haben beantragt, dass dem Mann ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro aufgebrummt wird, wenn er es nicht unterlässt, Frau Kutzner bei ihrem alten männlichen Vornamen zu nennen“, sagt Benecken. Die Klage ziele auch auf Geschlechterdiskriminierung ab, weil der Nachbar nicht nur den alten männlichen Vornamen von Sophie Vivien Kutzner benutzt, sondern ihre weibliche Kleidung damit in Verbindung gesetzt habe, wie Benecken sagt. „Das ist nicht nur moralisch, sondern auch juristisch nicht zu dulden.“
Noch kann der Nachbar einlenken. Wenn er weiterhin nicht reagiert, landet der Fall vor Gericht. Anwalt Benecken erhofft sich ein Grundsatzurteil, sollte es zum Prozess kommen. „Ich glaube, dass sehr viele Menschen betroffen sind, die einer vermeintlichen Minderheit angehören“, sagt er. Sophie Vivien Kutzner will sich wehren. „Es geht um Diskriminierung – ganz egal welcher Art. Es kann ja nicht sein, dass man beleidigt wird, weil man die falsche Hautfarbe hat, weil man Ausländer ist oder weil man sich entschieden hat, als Frau zu leben.“Sie schüttelt den Kopf, ihre Haare sind inzwischen schulterlang. Aber was noch viel wichtiger ist: „Ich wache morgens auf und hab gute Laune, jeden Morgen“, sagt sie. Ihr Leben fühlt sich jetzt genau richtig an.