Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Erst bejubelt, nun verpönt? Seit 60 Jahren ist die „Pille“auf dem Markt.
Die Antibabypille kam vor 60 Jahren auf den Markt. Das einst gute Image bröckelt.
DÜSSELDORF Die Pille zählt zu den sichersten Verhütungsmitteln, ist einfach und bequem in der Handhabung und bringt für viele Frauen weitere Vorteile: Sie lindert ihre Menstruationsbeschwerden oder wird eingenommen, um ganz von der Monatsblutung befreit zu sein. Es geht um ein selbstbestimmtes Lebensgefühl. Rund die Hälfte der Frauen in Deutschland verhütet darum mit der Pille.
Das war nicht immer so: Als vor 60 Jahren, am 1. Juni 1961, das Berliner Pharmaunternehmen Schering Anovlar auf den Markt brachte, war Sex noch ein Tabuthema. „Er hatte obszönen Charakter. Über sexuelles Verlangen und Lust sprach man in der Nachkriegszeit nicht“, sagt Beate Keldenich, die als Medizinerin zur Geschichte der Antibabypille in Deutschland geforscht hat. Entsprechend groß waren sowohl die Bedenken, das Mittel könne nicht angenommen werden, als auch die Befürchtung, nun wildem Beischlaf Tür und Tor zu öffnen.
Die empfängnisverhütende Wirkung der Pille war zunächst nur eine Nebenwirkung. Eingesetzt wurde das Mittel gegen Menstruationsbeschwerden und zunächst nur an verheiratete Frauen verschrieben. „Doch die Möglichkeit von mehr sexueller Freiheit und Geburtenkontrolle sprach sich sehr schnell herum“, sagt Keldenich: unter den Studentinnen und in der größer werdenden Frauenbewegung. In der Studentenrevolte 1968 wird die Pille Teil der sexuellen Befreiung. Alice Schwarzer, Ikone der Frauenbewegung der 70er-jahre, bezeichnet sie auf ihrer Homepage als „Geschenk Gottes“und sieht die Pille als „Meilenstein in der Geschichte der
Emanzipation der Frau“. 60 Jahre nach Einführung der Pille empfinden vor allem viele junge Frauen beim Gedanken an die Pille hingegen weniger Euphorie. Eine von ihnen ist Buchautorin und Menstruationsaktivistin Franka Frei. „Ich habe die Pille mit 14 Jahren verschrieben bekommen und über viele Jahre nicht verstanden, dass ich ein Medikament nehme“, sagt die heute 26-Jährige. Zwar sieht auch sie die Pille als Privileg zur Verhütung, doch werde sie zu schnell verschrieben und zu unreflektiert eingenommen.
Auch Neurowissenschaftlerin Birgit Derntl sieht das so. Sie forscht an der Universität Tübingen unter anderem daran, wie sich Hormone auf Hirnfunktionen auswirken. Derntl bemängelt, dass zwar viele bei der Verordnung von Antibiotika eine inzwischen kritische Haltung hätten, nicht aber beim Umgang mit der Pille. Diese habe zwar weltweit vieles zum Positiven verändert – unter anderem durch den therapeutischen Einsatz bei Erkrankungen wie Endometriose oder Menstruationsstörungen. „Wie jedes andere Medikament birgt sie Risiken und Nebenwirkungen – nur darüber redet kaum jemand“, sagt Derntl.
Zu den häufigsten bekannten Nebenwirkungen zählt unter anderem die mögliche Bildung von Blutgerinnseln, durch die es zu lebensgefährlichen Thrombosen und Embolien kommen kann. Mehr als 50 Prozent der Frauen bekommen laut Informationen des AOK-BUNdesverbandes immer noch Wirkstoffe mit einem erhöhten oder unklaren Risiko für die Bildung von venösen Thromboembolien. „Wir wissen außerdem, dass die Pille die Gefahr für Depressionen erhöht, das Brustkrebsrisiko erhöhen kann, das Gehirn verändert und damit auf Geruchssinn und Wahrnehmung Einfluss nehmen und persönlichkeitsverändernd sein kann“, sagt Frei.
Im Netz zeigt sich eine Bewegung junger Frauen, die unter Hashtags wie #pilleabsetzen oder #hormonfrei von negativen Erfahrungen durch die Pilleneinnahme berichten. So auch die Schweizer Bloggerin Lara Zaugg alias Vanillacrunnch. Sie schreibt offen über Migräneattacken, Blähungen, Wassereinlagerungen, Kopfschmerzen und weniger Lust auf Sex. In Summe hat das zu dem Trend geführt, dass die Pille in Sachen Verhütung neben anderen Verhütungsmitteln vor allem in der jüngeren Generation weniger Bedeutung hat. Experten wie die Hormonspezialistin Vanadin Seifert-klauss, Oberärztin an der Frauenklinik der TU München, beobachten den Trend unter jungen Frauen, Eingriffen in die natürlichen Vorgänge ihres Körpers kritisch gegenüberzustehen. Das Körperbewusstsein habe sich sehr verändert, pflichtet auch Keldenich bei. „Wir haben angefangen, mehr zu reflektieren“, sagt Frei.