Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Karl-rudolf Korte im Interview über das Rennen zwischen Laschet, Scholz und Baerbock.
KARL-RUDOLF KORTE Wie wird die Bundestagswahl während der Pandemie ausgehen? Der Politikwissenschaftler spricht über Kandidaten und Chancen.
Herr Professor Korte, 2021 treten zum ersten Mal drei Kanzlerkandidaten an, die Amtsinhaberin aber nicht mehr. Ist das die spannendste Bundestagswahl, die es je gab? KORTE (lacht) So alt bin ich noch nicht, um das zu beurteilen.
Aus den letzten Jahrzehnten?
KORTE Wir haben keine Analogien. Das alles ist vollkommen neu. Niemals zuvor wählten wir ohne Titelverteidiger einen neuen Bundestag, niemals zuvor in einer parlamentarisch beschlossenen Ausnahmezeit, und niemals zuvor gab es nach 16 Jahren keine messbare radikale Wechselstimmung. Das war bei Konrad Adenauer und Helmut Kohl anders. Alle drei Variablen sind neu und anders und stellen die Wahlforschung im Sinne eines Vergleichs vor eine Herausforderung. Ob das die spannendste Wahl ist, weiß ich nicht. Es ist auch eine sterile, künstliche Zeit. Es fehlen die Räume, Leidenschaft zu entwickeln. Es fehlt die Möglichkeit, Willensbildung mit anderen in der Gruppe zu entwickeln. Es ist schon sehr gebremst und stillgestellt im Moment. Aber die Wahl 2021 wird ein Unikat sein.
Wie stark hängt das Wahlergebnis vom Pandemiemanagement auf den letzten Metern ab?
KORTE Das ist insofern nur entscheidend, falls es chaotisch wird am Ende. Sagen wir, eine Supermutante tritt auf, die Impfstoffe funktionieren nicht, dann ist nur eine Not-allparteien-regierung denkbar, die dann eingesetzt wird. Insofern kann man schon sagen, das Virus entscheidet die Bundestagswahl. Ansonsten wird die Pandemie eher indirekt ein Thema sein, bei den Zukunftsthemen wie der Reform von Infrastruktur, wo der Staat vorsorgend sichtbar wird. Das wird wichtig sein, um eine resiliente Demokratie zu schaffen. Resilienz, die Widerstandsfähigkeit, das wird Wähler begeistern. Nicht die Abrechnung mit dem Alten, sondern die Frage: Wer schützt uns durch was in Zukunft?
Anders als Grüne und SPD hat die Union noch kein Wahlprogramm. Armin Laschet sagt, er weiß auch so, warum er Kanzler werden will. KORTE Die Union wird noch ein Programm vorlegen, da bin ich sicher. Aber die CDU war nie eine Programmpartei. Laschet zielt auf Merkel-wähler, ohne Merkel zu kopieren. Er kann die gesellschaftliche Mitte vollständig binden. Die
Flüchtlingspolitik hat er maßgeblich unterstützt und den größten Cdu-landesverband auf liberalem Kurs gehalten. Das ist sein größter Verdienst innerhalb der Partei. Laschet versucht, die progressive Mitte zu bedienen. Die Wähler bekommen mit ihm, wie bei jedem NRW-KANZlerkandidaten, zudem mehr Industriepolitik. Weil das Land dafür steht. Laschet lässt keinen Auftritt aus, um das zu betonen. Er ist inhaltlich nicht unbeschrieben.
Nachdem er Parteichef wurde, ist die CDU in den Umfragen runtergerauscht. Was läuft da schief? KORTE Das war bei Olaf Scholz auch so, da werden die Findungsprozesse der Nominierungen in der Stimmung abgebildet. Zeitgleich hatten wir die Maskenaffäre, Korruption, die personellen Querelen, die nach außen getragen wurden. Diese drei Faktoren projiziert man nun in die Zahlen rein. Die Union hat relativ unschön ihren Kandidaten gefunden, einige Politiker haben sich bereichert, insofern ist die Partei auf einem Weg, der für viele Zuschauer nicht attraktiv erscheint. Es ist unfair zu sagen: Das ist nur eine Laschet-note.
Die Union setzt darauf, dass die Menschen im September alle geimpft sind. Sie setzt also im Grunde auf die Vergesslichkeit der Wähler. KORTE Nicht die Vergesslichkeit. Ich wende es positiv: Die Wähler wählen Zuversicht. Die Demokratie ist die optimistischste Staatsform, die es gibt. Wir wählen die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Wahlen sind keine Erntedankfeste. Das rückwirkende Abrechnen kommt mal vor, aber eher selten.
Annalena Baerbock löst derzeit viel Euphorie aus. Das erinnert an Martin Schulz. Der ist 2017 auch mal als Heilsbringer gestartet. KORTE Die Situation der SPD 2017 ist nicht mit der Lage der Grünen von 2021 vergleichbar. Bei Martin Schulz war das Scheitern auch selbstverursacht. Da tauchte ein großer Europäer auf, der in der Berliner Republik nicht kundig wirkte. Das haben dort alle sofort gemerkt. Es war nicht der Wahlsieg von Annegret-kramp Karrenbauer im Saarland, der Schulz in den Umfragewerten hat abstürzen lassen, da kamen andere Dinge zusammen. Der ganze Wahlkampf war nicht stimmig. In der Falle sehe ich Annalena Baerbock nicht, sie agiert derzeit inhaltlich sehr professionell.
Die Chance, die Wahl zu einem Lifestyle-erlebnis zu machen, ist da. Allerdings: Die Grünen waren häufig Umfragehelden und sind dann vor den Wahlen wie ein Soufflé in sich zusammengesackt.
Die SPD hat trotz Umfragewerten von 15 Prozent einen Kanzlerkandidaten gekürt. Geerntet hat sie dafür vor allem Spott. Warum?
KORTE Wir haben vergessen, wozu ein Wahlkampf da ist. Es geht darum, Inhalte, Unterschiede und Alleinstellungsmerkmale anzubieten und damit zu mobilisieren. Wahlkämpfe bewirken was. Sie sollen vor allem die eigenen Anhänger stärken. Bei den vergangenen Wahlen haben wir die asymmetrische Demobilisierung erlebt. Merkel war als Person unfähig zu polarisieren. Und gute Ideen der anderen Parteien nahm sie als Kanzlerpräsidentin bereitwillig mit ins Programm der Union. Wir haben jetzt hoffentlich eine gute Zeit, uns in der politischen Erbschaft von Merkel mit unterschiedlichen Themen strittig, kontrovers und laut auseinanderzusetzen.
Es ist also deutlich zu früh für jeden Abgesang auf Olaf Scholz? KORTE Ja, weil es in Deutschland nicht nur Erneuerungsenthusiasten gibt, nicht nur disruptive, begeisterte Wähler, sondern auch sicherheitskonservative, stabilitätsorientierte Wähler, die in der Regel das Bekannte, nicht das Unbekannte wählen. In dieses Schema passt ein erfahrener Vizekanzler Scholz, der als Finanzminister Milliarden Euro verteilt. Und: Die Deutschen sind Koalitionswähler.
Warum starren wir derzeit so sehr auf die Umfragewerte?
KORTE Wir lieben das Messbare, aus Mangel an Maßstäben. Deswegen ist es in der Demoskopiedemokratie so angesagt, angeblich messbare, authentische Daten zu haben, die uns sagen, wie wir Dinge einschätzen sollen. Sozial Erwünschtes wird oft in die Fragen hineininterpretiert. Dabei wäre es wichtig herauszufinden, was die zentralsten, wichtigsten Themen im September sind. Denn wir werden nie die bestrafen, die zu spät Masken bestellt haben, sondern nur die belohnen, die sagen, wie es weitergeht. Wir favorisieren das Licht, nicht den Schatten. Wer garantiert die Mittigkeit der Gesellschaft, die die Mehrzahl der Wähler absolut sehnsuchtsvoll will? Wer fügt uns wieder zusam
men nach den pandemischen Vereinzelungsübungen? Das interessiert Wählerinnen und Wähler.
Welche Rolle hat eigentlich Angela Merkel im Wahlkampf?
KORTE Keine. Sie ist Kanzlerpräsidentin und hält sich überall raus. Man weiß gar nicht mehr, in welcher Partei Merkel überhaupt ist. Sie ist nicht für oder gegen irgendjemanden. Bei den Leuten kommt das erstaunlich gut an. Man rechnet ihr das Überparteiliche hoch an. Bis zum letzten Tag wird sie stellvertretend für uns und in dienender Rolle Probleme lösen, um dann würdevoll bedeutungslos zu werden. Bislang zahlt es sich allerdings für alle aus, sich hinter ihren Rücken zu stellen, den Merkel-bonus zu genießen. Niemand wird auf Distanz gehen, man wird sich mit ihr schmücken. Aber sie lässt sich auf keine Wahlkampfbühne zerren, da bin ich relativ sicher.
Man munkelt, sie sei ja in Wahrheit Fan von Baerbock.
KORTE (lacht) Merkel war oft eine Themendiebin. Aber sie wollte auch immer Frauen als Nachfolgerin – auch in Brüssel. Sogar bei der Bundespräsidentenwahl hatte sie die Grüne Marianne Birthler vorgeschlagen, die es sicher geworden wäre, wenn sie kandidiert hätte. Ob Merkel deshalb ein Fan von Baerbock sein könnte, bleibt Spekulation.