Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Friede an der Hecke
Nachbarn streiten sich offensichtlich weniger – trotz Pandemie. Die Zahl der Schiedsverfahren ging 2020 deutlich zurück.
DUISBURG Nicht dass Helmut Hartmann langweilig wäre und er etwas gegen zu viel Harmonie hätte. Aber so langsam könnte doch mal wieder ein Fall von streitenden Nachbarn, die sich über einen zu großen Gartenzaun oder eine nicht geschnittene Hecke ärgern, auf seinem Tisch landen. In diesem Jahr hat der Duisburger Schiedsmann noch keinen einzigen Streit schlichten müssen. Auch im vergangenen Jahr ist es nur ein einziger gewesen.
„Und das trotz Corona“, sagt der 63-Jährige. „Da hätte man doch eigentlich meinen können, dass sich wegen der Pandemie mehr Menschen streiten, weil alle zu Hause sind.“Normalerweise bearbeitet er durchschnittlich 15 Fälle pro Jahr. Aber Corona habe irgendwie den Stecker gezogen. Tatsächlich hat es trotz der Pandemie im vergangenen Jahr weniger Schiedssprüche in NRW gegeben als in den Vorjahren, wie das Justizministerium unserer Redaktion mitgeteilt hat. So gab es landesweit im vergangenen Jahr 3701 Anträge auf Schlichtungsverhandlungen in sogenannten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten; 2019 waren es 3997 gewesen.
Auch die Zahl der durch einen Vergleich erledigten Fälle sank von 1962 (2019) auf 1508. Ebenfalls rückläufig ist die Zahl der Anträge auf Schlichtungsverhandlungen in Strafsachen mit 637 (2019: 812). „Vielleicht haben sich viele Menschen wegen der Corona-regeln nicht bei uns Schiedsleuten gemeldet und holen das nach, wenn die Pandemie vorüber ist. Da könnte sich durchaus eine Welle aufgebaut haben“, vermutet Hartmann.
In Nordrhein-westfalen gibt es rund 1100 ehrenamtliche Schiedsleute. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Gerichte zu entlasten, indem sie Bagatellen im Vorfeld schlichten. Aber in einigen Bezirken gibt es bereits keine Schiedsleute mehr, weil sich immer weniger Menschen bereit erklären, dieses Ehrenamt zu übernehmen. „Wir haben ein Nachwuchsproblem“, sagt Hartmann. „Diese Position kann aber auch nicht jeder ausüben. Man muss schon ein gewisses Alter haben, über Menschenkenntnis und Allgemeinbildung verfügen“, sagt er. Das zeigt sich auch in den Zahlen des Justizministeriums. Von 2017 bis 2020 ging die Zahl der Schiedspersonen von 1104 auf 1070 zurück – Tendenz weiter abnehmend.
Schiedsleute werden einerseits bei sogenannten Privatklagesachen eingeschaltet, bei denen die Staatsanwaltschaft nur bei öffentlichem Interesse einer Strafverfolgung nachgeht. Zudem ist für eine Reihe von zivilrechtlichen Streitigkeiten ein außergerichtliches Streitschlichtungsverfahren vorgeschrieben. Kommt es nicht zur Schlichtung, kann die Sache vor Gericht kommen. Dort versucht der Richter dann meist, die Angelegenheit mit einem Vergleich aus der Welt zu schaffen – wofür die Richter aber eigentlich keine Kapazitäten haben. „Sie sollen sich schließlich um Angelegenheiten mit öffentlichem Interesse kümmern“, so Hartmann.
In der Regel werden Schiedsleute beim typischen Nachbarschaftsstreit benötigt: Wenn die Hecke zu hoch ist, der Gartenzwerg auf dem Grundstück nebenan den Mittelfinger zeigt, der Grillgeruch stört oder die Musik zu laut aufgedreht ist. So ist es auch in dem einzigen Streit gewesen, den Hartmann im vergangen Jahr schlichten musste. „Es ging um einen Baum auf dem Grundstück des Nachbarn“, sagt der Duisburger Schiedsmann. Dieser habe den Nachbarn nebenan gestört, weil er zu viel Schatten warf. „Der Nachbar hatte sich eine Solaranlage aufs Dach montieren lassen. Durch den Baum kam nicht genug Sonne an. Deswegen gab es Aufregung“, sagt er. Aber auch dieser Konflikt war schnell gelöst: Der Baum wurde zurückgeschnitten.
„Man hätte meinen können, dass sich mehr Menschen streiten, weil alle zu Hause sind“Helmut Hartmann Schiedsmann aus Duisburg