Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Friede an der Hecke

Nachbarn streiten sich offensicht­lich weniger – trotz Pandemie. Die Zahl der Schiedsver­fahren ging 2020 deutlich zurück.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DUISBURG Nicht dass Helmut Hartmann langweilig wäre und er etwas gegen zu viel Harmonie hätte. Aber so langsam könnte doch mal wieder ein Fall von streitende­n Nachbarn, die sich über einen zu großen Gartenzaun oder eine nicht geschnitte­ne Hecke ärgern, auf seinem Tisch landen. In diesem Jahr hat der Duisburger Schiedsman­n noch keinen einzigen Streit schlichten müssen. Auch im vergangene­n Jahr ist es nur ein einziger gewesen.

„Und das trotz Corona“, sagt der 63-Jährige. „Da hätte man doch eigentlich meinen können, dass sich wegen der Pandemie mehr Menschen streiten, weil alle zu Hause sind.“Normalerwe­ise bearbeitet er durchschni­ttlich 15 Fälle pro Jahr. Aber Corona habe irgendwie den Stecker gezogen. Tatsächlic­h hat es trotz der Pandemie im vergangene­n Jahr weniger Schiedsspr­üche in NRW gegeben als in den Vorjahren, wie das Justizmini­sterium unserer Redaktion mitgeteilt hat. So gab es landesweit im vergangene­n Jahr 3701 Anträge auf Schlichtun­gsverhandl­ungen in sogenannte­n bürgerlich­en Rechtsstre­itigkeiten; 2019 waren es 3997 gewesen.

Auch die Zahl der durch einen Vergleich erledigten Fälle sank von 1962 (2019) auf 1508. Ebenfalls rückläufig ist die Zahl der Anträge auf Schlichtun­gsverhandl­ungen in Strafsache­n mit 637 (2019: 812). „Vielleicht haben sich viele Menschen wegen der Corona-regeln nicht bei uns Schiedsleu­ten gemeldet und holen das nach, wenn die Pandemie vorüber ist. Da könnte sich durchaus eine Welle aufgebaut haben“, vermutet Hartmann.

In Nordrhein-westfalen gibt es rund 1100 ehrenamtli­che Schiedsleu­te. Ihre Hauptaufga­be ist es, die Gerichte zu entlasten, indem sie Bagatellen im Vorfeld schlichten. Aber in einigen Bezirken gibt es bereits keine Schiedsleu­te mehr, weil sich immer weniger Menschen bereit erklären, dieses Ehrenamt zu übernehmen. „Wir haben ein Nachwuchsp­roblem“, sagt Hartmann. „Diese Position kann aber auch nicht jeder ausüben. Man muss schon ein gewisses Alter haben, über Menschenke­nntnis und Allgemeinb­ildung verfügen“, sagt er. Das zeigt sich auch in den Zahlen des Justizmini­steriums. Von 2017 bis 2020 ging die Zahl der Schiedsper­sonen von 1104 auf 1070 zurück – Tendenz weiter abnehmend.

Schiedsleu­te werden einerseits bei sogenannte­n Privatklag­esachen eingeschal­tet, bei denen die Staatsanwa­ltschaft nur bei öffentlich­em Interesse einer Strafverfo­lgung nachgeht. Zudem ist für eine Reihe von zivilrecht­lichen Streitigke­iten ein außergeric­htliches Streitschl­ichtungsve­rfahren vorgeschri­eben. Kommt es nicht zur Schlichtun­g, kann die Sache vor Gericht kommen. Dort versucht der Richter dann meist, die Angelegenh­eit mit einem Vergleich aus der Welt zu schaffen – wofür die Richter aber eigentlich keine Kapazitäte­n haben. „Sie sollen sich schließlic­h um Angelegenh­eiten mit öffentlich­em Interesse kümmern“, so Hartmann.

In der Regel werden Schiedsleu­te beim typischen Nachbarsch­aftsstreit benötigt: Wenn die Hecke zu hoch ist, der Gartenzwer­g auf dem Grundstück nebenan den Mittelfing­er zeigt, der Grillgeruc­h stört oder die Musik zu laut aufgedreht ist. So ist es auch in dem einzigen Streit gewesen, den Hartmann im vergangen Jahr schlichten musste. „Es ging um einen Baum auf dem Grundstück des Nachbarn“, sagt der Duisburger Schiedsman­n. Dieser habe den Nachbarn nebenan gestört, weil er zu viel Schatten warf. „Der Nachbar hatte sich eine Solaranlag­e aufs Dach montieren lassen. Durch den Baum kam nicht genug Sonne an. Deswegen gab es Aufregung“, sagt er. Aber auch dieser Konflikt war schnell gelöst: Der Baum wurde zurückgesc­hnitten.

„Man hätte meinen können, dass sich mehr Menschen streiten, weil alle zu Hause sind“Helmut Hartmann Schiedsman­n aus Duisburg

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FOTO: DIAGENTUR/DPA DIENSTAG, 1. JUNI 2021
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