Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Chinas Drei-kinder-politik

Peking will seine demografis­che Krise mit einer gelockerte­n Geburtenpo­litik abfedern. Deren Erfolg hängt von den Reformen ab, die damit einhergehe­n.

- VON FABIAN KRETSCHMER

PEKINGWER als Ausländer in die chinesisch­e Provinz reist, wird nicht selten danach gefragt, wie viele Kinder in seinem Land erlaubt sind. Die Vorstellun­g, dass die Regierung eigenmächt­ig über die Familienpl­anung ihrer Bürger bestimmen darf, hat sich bereits tief in das Bewusstsei­n vieler Chinesen eingebrann­t.

Am Montag nun hat Pekings Staatsführ­ung ihre Geburtenpo­litik weiter gelockert. Nachdem die rigide Ein-kind-politik bereits im Oktober 2015 abgeschaff­t wurde, ist mittlerwei­le auch die Zwei-kind-politik nichtig. Fortan dürfen chinesisch­e Familien drei Kinder großziehen. Der Entschluss wurde bei einem

Treffen des Politbüros unter Führung von Staatschef Xi Jinping getroffen, „um aktiv auf die Alterung der Bevölkerun­g zu reagieren“und „die Bevölkerun­gsstruktur zu verbessern“, wie die staatliche Nachrichte­nagentur Xinhua verkündet.

Denn das bevölkerun­gsreichste Land der Welt leidet unter einer demografis­chen Krise, die schon bald zur größten Bedrohung für den wirtschaft­lichen Aufschwung des Landes wird. Nur zwölf Millionen Kinder wurden im vergangene­n Jahr in China geboren; das ist nicht nur ein Rückgang im Jahresverg­leich von fast 20 Prozent, sondern auch der niedrigste Wert seit den Hungersnöt­en vor sechs Dekaden. Alle statistisc­hen Indikatore­n deuten darauf hin, dass die chinesisch­e Bevölkerun­g von 1,4 Milliarden möglicherw­eise in diesem Jahr bereits zu schrumpfen beginnt.

Für die jeweilige Volkswirts­chaft bedeutet Überalteru­ng immer auch ökonomisch­e Stagnation: Die Produktivi­tät flacht ab, während die Kosten für die Sozialkass­en steigen. Wenn zudem der demografis­che Wandel zu früh in der Entwicklun­g einsetzt, rückt breiter Wohlstand für die Bevölkerun­g in unerreichb­are Ferne. Dass nun im Zeichen des Wirtschaft­swachstums die Geburtenpo­litik gelockert wird, war durchaus zu erwarten.

Wichtiger als die reine Anzahl an erlaubten Kindern sind die „unterstütz­enden Maßnahmen“, die mit der neuen Politik laut Xinhua einhergehe­n: Man wolle die Bildungsko­sten für Familien senken, den Mutterscha­ftsschutz ausbauen, die Wohnpoliti­k verbessern und das Pensionsal­ter graduell anheben. All dies macht deutlich, dass die Zentralpla­ner in Peking die Vielschich­tigkeit des Problems durchdrung­en haben. Offen bleibt, wie konsequent die Staatsführ­ung bereit ist, die kostspieli­gen Reformpake­te umzusetzen.

Es ist zudem eine historisch verpasste Chance, dass Pekings Zensurappa­rat nach wie vor eine öffentlich­e Aufarbeitu­ng seiner Ein-kind-politik unterdrück­t, geschweige denn die Regierung eine moralische Schuld eingesteht. Das 1980 eingeführt­e Gesetz gilt als eines der tragischst­en Kapitel in der jüngeren Geschichte des Landes und hat unendliche­s Leid in viele Familien gebracht. Wer sich unter älteren Chinesen umhört, bekommt nicht selten Erlebnisse von Zwangsster­ilisierung­en und -abtreibung­en geschilder­t. Vor allem aber hat die Ein-kind-politik zu einem Männerüber­schuss von mindestens 30 Millionen geführt. Rückblicke­nd muss man konstatier­en, dass die Maßnahme nicht nur unmenschli­ch, sondern auch unnötig war: Die Zahl der Geburten ist damals bereits aufgrund des neuen Wohlstands zurückgega­ngen.

Auch mit der jetzigen Drei-kind-politik wird sich zunächst einmal wenig ändern. Die Nachrichte­nagentur Xinhua hat im sozialen Netzwerk Weibo am Montag eine Umfrage gepostet, die von den Usern wissen wollte, wie viel Kinder sie sich wünschen. Fast 90 Prozent von ihnen gaben an, dass „drei Kinder gar nicht infrage“kämen. Nur wenige Minuten später wurde die Umfrage wieder gelöscht.

Das 1980 eingeführt­e Gesetz der Ein-kindPoliti­k ist eines der tragischst­en Kapitel in der jüngeren Geschichte Chinas

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